Kriminalbeamter sieht Ehrenkodex als Ursache / Angeklagter kommt vorläufig auf freien Fuß Opfer von Schießerei zieht plötzlich Aussage gegen "Bandidos"-Mitglied zurück
Zwei dunkle Gestalten in der Nacht, Erinnerungslücken und der Ehrenkodex unter Motorrad-Rockern: In einem der spektakulärsten Gerichtsverfahren in Sachsen-Anhalt hat das Opfer mit seiner Aussage für eine unerwartete Wende gesorgt.
Halle (dpa) l Paukenschlag im Prozess um eine Schießerei unter Motorrad-Rockern in Halle: Der Angeklagte kommt vorerst auf freien Fuß. Das Landgericht hob gestern den Haftbefehl gegen den 39-Jährigen auf. Es bestehe kein dringender Tatverdacht mehr, hieß es. Auslöser war die Aussage des Opfers. Der 26-Jährige hatte als Hauptzeuge seine Aussagen gegen den Angeklagten widerrufen. "Im Nachhinein kann ich das so nicht bestätigen", sagte er vor Gericht. Er könne sich nicht mehr genau an die Tat erinnern. Der Mann war am 3. Mai vor seiner Haustür in seinem Auto angeschossen und lebensgefährlich verletzt worden.
Bei der Polizei hatte er laut Protokoll noch ausgesagt, sein früherer Freund habe auf ihn geschossen. Der 39-Jährige soll laut Anklage den Motorrad-Rockern Bandidos angehören. Das 26 Jahre alte Opfer soll dagegen der Präsident der rivalisierenden Underdogs MC gewesen sein. Dem Angeklagten wirft die Staatsanwaltschaft versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung vor. Beim Motiv gehen die Ermittler von einem erbitterten Machtkampf um die Vorherrschaft im Milieu aus.
Der 26-Jährige gab an, nach der Operation unter dem Einfluss von Medikamenten gestanden zu haben. Er wisse nur, dass zwei "dunkle Gestalten" in jener Nacht vor seinem Auto aufgetaucht seien. Er wisse nicht, wer auf ihn geschossen habe. "Ich kann nicht sagen, warum das jemand gemacht hat", sagte er. Der junge Mann war nach den Schüssen nach eigenen Angaben selbst mit dem Auto in eine Klinik gefahren. Ärzte retteten ihm mit der Operation das Leben. Er gab an, nicht mehr Mitglied der Underdogs MC zu sein.
Auf die Frage des Staatsanwalts, weshalb er erst Monate später seine Aussagen widerrufe, sagte der 26-Jährige, er habe die Schüsse erst einmal verarbeiten müssen. Der Angeklagte saß seit Mai in Untersuchungshaft. "Es gibt einen gewissen Ehrenkodex in der Rockerszene", sagte ein Kriminalbeamter aus. Das Opfer habe ihm im Krankenhaus gesagt, es wolle erst noch einmal darüber nachdenken, ob es den Ehrenkodex brechen werde.
Der Prozess wird am Freitag fortgesetzt.