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Parteien Metamorphosen der Grünen in Sachsen-Anhalt

Vor 25 Jahren schlossen sich die Grünen aus Ost und West zusammen. Ulrich-Karl Engel aus Blankenburg spricht über turbulente Zeiten.

Von Steffen Honig 14.05.2018, 01:01

Volksstimme: Die Grünen in Sachsen-Anhalt haben seit der Wende organisatorisch und namenstechnisch einige Metamorphosen durchgemacht.

Ulrich-Karl Engel: Ja, das musste sich in diesen turbulenten Zeiten erst ordnen. So war ich als einer von fünf Abgeordneten in einer Listenverbindung Grüne Liste/Neues Forum in den Landtag von Sachsen-Anhalt gewählt worden. Schon am Tag darauf beschlossen wir, diese schillernde Bezeichnung abzulegen. Fortan nannten wir uns Bündnis 90/Die Grünen. Die Entscheidung, die allein wir fünf unter Führung von Hans-Joachim Tschiche am Morgen nach der Landtagswahl getroffen haben. Unter diesem Namen waren wir vorher auch in der letzten Volkskammer und später auch im Bundestag präsent. Es folgte in den ostdeutschen Ländern die Vereinigung der Bürgerbewegungen zu Bündnis 90 und später die bundesweite Vereinigung mit den Westgrünen zu Bündnis 90/Die Grünen.

Tschiche spielte als Nestor der friedlichen Revolution eine herausragende Rolle. Wie haben Sie ihn erlebt?

Hans-Joachim Tschiche war die wichtigste Figur, die weit über die Partei hinaus Anerkennung fand. Sein mutiges Auftreten in der Wendezeit u.a. auf dem Magdeburger Dom- platz hat ihm große Sympathie eingetragen. Diese lebte auch im Landtag weiter und hat auch mir den Start erleichtert. Die Arbeit dort und viele Inhalte waren für uns alle neu. Du hast gestern erstmals in deinem Leben von einem Thema gehört, dich heute damit befasst und musstest es morgen schon möglichst überzeugend verkaufen, als hättest du es schon immer gekannt. Eine anstrengende aber beglückende Zeit.

Wie hat sich der Selbstfindungsprozess innerhalb und außerhalb des Parlaments entwickelt?

Über alle Parteien hinweg gab es im Parlament einen Gestaltungsdrang, den man auch ausleben konnte. Die Fronten zwischen den Parteien waren noch nicht so stark verhärtet. In einer Rolle, die heute viele Abgeordnete beklagen, Opposition gleich Verlierer – so fühlte ich mich keinesfalls. Parallel zur Arbeit im Landtag galt es, die im Land nach wie vor zersplitterten und mit dem Neuen Forum sehr selbstbewussten Bürgerbewegungen in einer zukunftsfähigen Struktur zu bündeln. Lange Abende, kurze Nächte.

Sie kamen aus der Bürgerbewegung, deren Bedeutung nach den ersten Wahlen stark schrumpfte. Wie groß war der Frust darüber?

Das war für uns aus der Bürgerbewegung natürlich eine ernüchternde Erfahrung. Heute mit Abstand ist das aber auch rational begründbar. Das gemeinsame Problemfeld war die SED gewesen. Als dieser Kristallisationspunkt verschwand, gewannen individuelle Lebensauffassungen die Oberhand und führten zur gesellschaftlichen Differenzierung. Nach einem gerade gescheiterten Gesellschaftsexperiment suchten die Menschen schnelle Anlehnung bei einem vermeintlich Starken und die Sicherheit, dass es diesmal klappen würde. Wir hingen dem Traum nach, ein Volk, das gerade eine Diktatur abgeschüttelt hatte, wäre auch bereit, selbstbewusst einen dritten Weg zu suchen, den wir aber auch nicht kannten.

Wie gestaltete sich die Kooperation mit den West-Grünen?

Die Grünen im Westen waren zum damaligen Zeitpunkt schwer gezeichnet. Nach der ersten gesamtdeutschen Wahl waren sie gerade aus dem Bundestag geflogen. Ihr Slogan im Bundestagswahlkampf „Alle reden von Deutschland, wir reden vom Wetter“ war eine politische Fehlleistung. Allein die Einteilung in ein Wahlgebiet Ost und ein Wahlgebiet West bewirkte, dass zumindest acht Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen Ost im Parlament die Fahne hochhalten konnten. Aber es lebten in der Partei die Facharbeitskreise weiter. Das war für mich wichtig, denn dort konnte ich u.a. die alten westdeutschen Debatten mit ihren Argumenten studieren, die nun nach und nach auf uns überschwappten. Das half sehr. Ich hatte dabei den Eindruck, für viele West-Grüne war es auch ein Erlebnis mit uns nun Partner zu haben, die im Parlament nicht ausgegrenzt wurden. Ihre parlamentarischen Anfangserfahrungen waren ganz anders.

Das dokumentiert auch der Doppelname Bündnis 90/Die Grünen. Hatten Sie schwer zu tun, den durchzusetzen?

Nein, die West-Grünen waren sehr schnell bereit, den gemeinsamen Namen anzunehmen. Vielleicht auch, um sich von anderen Parteien abzuheben, die nicht so pfleglich mit ihren neuen Partnern umgingen. Besonders die FDP kann ein Lied davon singen. Aber das ist deren Geschichte. Die Grünen haben mittlerweile Höhen und Tiefen erlebt. Im Osten ist es immer bescheiden geblieben, trotz des gegenwärtigen Mitregierens in Sachsen-Anhalt. Nach 1990 hat Bündnis 90/Die Grünen im Osten wesentlich vom Bonus aus der friedlichen Revolution gelebt. In dem Maße, wie diese Erfahrung verblasst ist, fiel dieser Bonus mehr und mehr weg. Ab Mitte der 1990er Jahre wurden wir schon als Ostfraktion der Gesamtpartei wahrgenommen. In der Minderheitsregierung ab 1994 wurde es aus einem weiteren Grund immer kritischer. Wir waren trotz einer engagierten Ministerin Heidrun Heidecke kein wirklicher Machtfaktor. Wenn sich SPD und PDS einig waren, brauchten sie uns für die Mehrheit nicht mehr. Auch einer der Gründe, weshalb wir 1998 nicht mehr über fünf Prozent kamen. Unser Bonus der Bürgerbewegung war verbraucht, das Neue war in der ostdeutschen Gesellschaft noch nicht etabliert. Das Tal konnten wir erst mit der Landtagswahl 2011 verlassen.

Die Grünen ringen derzeit um ein neues Programm. Wozu wird Ihre Partei heute gebraucht?

Man muss sehen, dass eine Partei immer eine Wertegemeinschaft ist. Im Kern suchen auch Wähler ihre eigenen Lebensauffassungen in den Angeboten der Parteien. Je mehr sich andere von angestammten Werten verabschieden, etwa dem Egoismus der Gegenwart hinterher hecheln, wird der Kern der Grünen sichtbarer. Dem wertkonservativen Teil der Wählerschaft eine Heimat zu geben, ist unserer Basis für die Zukunft.

Ein Beispiel?

Traditionell erreichen die Grünen in Wernigerode um die fünf Prozent. Unsere Wernigeröder Stadträtin Sabine Wetzel setzt sich seit Jahren für umweltgerechten Tourismus in Schierke ein. Bei der Oberbürgermeister-Wahl trat sie als Kandidatin an und erhielt 30 Prozent der Stimmen! Das heißt, diejenigen, für die konservative Werte wie Erhaltung der Schöpfung, von Natur und Umwelt sowie Denkmalschutz wichtig sind, fühlen sich im Zweifel bei uns aufgehoben. Wenn die Partei klar auf diesem Kurs bleibt, sehe ich trotz mancher tagespolitischer Aufreger auch in Sachsen-Anhalt für die Grünen eine sichere Zukunft.