1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Lieber daheim als im Heim

Pflege Lieber daheim als im Heim

Der Personalmangel in Pflegeheimen verschärft sich. In Schönebeck wird mit einem Modellprojekt dagegengesteuert.

Von Janette Beck 26.08.2019, 01:01

Schönebeck l Brigitte Wendler ist froh, endlich wieder „draußen“ zu sein. Unter Leuten. Seit zwei Wochen führt ihr Weg in den Ambulanten Geriatrischen Rehakomplex (AGR) um die Ecke. Hinter dem komplizierten Namen verbirgt sich ein ambulantes Rehabilitations-Angebot – speziell für Senioren und unter einem Dach. Hier ist die Schönebeckerin von 8 bis 14 Uhr in Gange: Physiotherapie, Ergotherapie, gesellige Runde mit den anderen Patienten – irgendwas ist immer. Das „straffe Programm“ ist für sie kein Grund zum Jammern. Im Gegenteil: „Es wurde Zeit, dass sich etwas tut. So konnte es doch nicht weitergehen!“

Gehen ist das Stichwort – und das Problem: Ein halbes Jahr habe sie ihr Haus nicht mehr verlassen können, erzählt die 85-Jährige. „Ich wohne im ersten Stock und traue mich einfach nicht mehr die Treppe runter.“ Auch nach dem Tod ihres Mannes war sie mobil geblieben, nahm am gesellschaftlichen Leben teil, pflegte Kontakte. Aber von heut‘ auf morgen war‘s vorbei. „Die Knie, die Füße, der Rücken – ich kam einfach nicht mehr hoch.“ Der Hausarzt gab sein Bestes. Aber egal, was versucht wurde, es wurde nicht besser. Ein Heim war für Brigitte Wendler und ihren Sohn, mit dem sie ihr Eigenheim bewohnt, dennoch keine Option. „Warum? Ich kann mich ja so noch ganz gut selbst versorgen und bin fit im Kopf. Nur das Treppensteigen geht eben nicht mehr.“

Genau an dieser Stelle setzt das Schönebecker Modell des AGR an, erklärt Dr. Burkhard John. Der Facharzt für Allgemeinmedizin ist einer von vier betreuenden Ärzten und Geschäftsführer des Rehakomplexes. Er weiß: Oft reicht ein Sturz oder ein längerer Klinikaufenthalt – und schon kommen alte Menschen daheim nicht mehr allein zurecht. „Mit unserem wohnortnahen und ganzheitlichen Modell zeigen wir, dass das für die Betroffenen nicht gleich bedeutet, dass sie zum Pflegefall werden und ins Heim müssen.“ Mit der intensiven Rundum-Betreuung im AGR unter Einbeziehung des persönlichen Umfelds und der Angehörigen verfolge man drei Ziele: die Herstellung größtmöglicher Selbständigkeit, die Vermeidung von Pflegebedürftigkeit sowie die Reduzierung von Krankenhausaufenthalten.

Das Motto „Lieber daheim als im Heim“ werde mit Blick auf den demografischen Wandel, den sich verschärfenden Personalmangel sowie die steigenden Pflegekosten künftig an Bedeutung gewinnen, ist John überzeugt.

Der AGR Schönebeck beherbergt auf 800 Quadratmetern je eine kooperierende Ergotherapie, Physiotherapie und Logopädie. Hinzu kommen Angebote der Sozial- und Wohnraumberatung sowie ein Fahrdienst. Frühstück und Mittag werden vor Ort zubereitet. Kosten für die Reha-Patienten: 10 Euro Zuzahlung pro Tag, plus Verpflegungspauschale. Die Krankenkassen finanzieren die Therapie über eine Tagespauschale.

Bis zu 20 Patienten, die an alterstypischen Erkrankungen oder den Folgen eines Schlaganfalls oder Herzinfarkts leiden, werden über 20 Tage behandelt. Im Umkreis von 30 Kilometern werden sie täglich zum AGR und wieder nach Hause transportiert. Das Team aus Ärzten, Physiotherapeut, Ergotherapeut und Logopäde arbeitet Hand in Hand und erstellt individuelle Pläne mit bis zu drei Therapie-Einheiten am Tag.

Durch ein Testverfahren am Anfang und am Ende der Reha werden Daten evaluiert. Die Erfolge der Jahre sprechen für die Effektivität der Komplexbehandlung, sagt John und verweist auf entsprechende Studienergebnisse: 90 Prozent der Patienten konnten nach der Reha in ihr häusliches Umfeld zurück und weiter ihre sozialen Kontakte pflegen. „Das ist ja das Wichtigste für sie.“

Trotz der Erfolgsgeschichte gibt es bundesweit nur sieben AGR‘s – drei davon in Sachsen-Anhalt. „Wir bräuchten viel mehr davon“, fordert John, gleichzeitig Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Doch es hakt wie so oft bei der Finanzierung. Hintergrund sind Verteilungskämpfe von knappen Budgets. „Die Krankenkassen sind nicht bereit, Gelder zur Verfügung zu stellen, da sich die positiven Effekte der Reha eher in der Pflegekasse niederschlagen.“ Bundesgesetzliche Regelungen würden das Problem flächendeckend lösen, regt er eine Diskussion über den wohnortnahen Aufbau von AGRs an. Wenn es darum gehe, dass alte Menschen so lange wie möglich in ihrem selbstgewählten sozialen Umfeld leben können, braucht es auf allen Seiten mehr Innovation, sagt John. Und Mut – so wie ihn die AOK und die IKK zusammen mit der KV beim Start des Projektes vor 20 Jahren hatten.