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Als die Volksstimme im Winter 1898/99 die Jugend "verführte" Polizei bewacht Schaufenster: Das Reich lacht sich schlapp

Von Oliver Schlicht 20.08.2010, 07:29

Die Volksstimme stand in den ersten Jahren nach ihrer Gründung wie viele andere sozialdemokratische Zeitungen auch unter besonderer Beobachtung von Polizei und Justiz. Bei den Versuchen, den "vaterlandslosen Gesellen" Verstöße gegen die bestehenden Pressegesetze nachzuweisen, waren die örtlichen Behörden sehr erfinderisch.

Die meisten Verurteilungen von Redakteuren der Volksstimme gab es in den 1890er Jahren wegen Majestätsbeleidigung, Gotteslästerung, Polizeibeleidigung oder einfach nur wegen groben Unfugs. Hausdurchsuchungen waren nicht selten. Sogar Haftstrafen sind überliefert.

Bei einer Aktion der Polizei gegen die SPD-Zeitung im Winter 1898/99 zog sich die Magdeburger Polizei allerdings den Spott von Kommentatoren im ganzen Deutschen Reich und auch aus dem Ausland zu. Der Fall bewirkte eine solche Resonanz, dass fortan der Name "Volksstimme" in Deutschland bekannter war als je zuvor.

Was war passiert? Druckerei und Redaktion der Zeitung hatten inzwischen prominent gelegene Räumlichkeiten an Magdeburgs Boulevard Breiter Weg bezogen. In einem Eckgebäude am Breiten Weg 127 saßen nicht nur der Verlag und die Redaktion.

Im Erdgeschoss befand sich schon damals das, was die Volksstimme heute "Servicecenter" nennt. Ein Laden, in dem Anzeigen angenommen und verkauft werden. Dort gab es auch allerlei Unterhaltsames zu kaufen: Bücher, Musikartikel, kleine Geschenke. Im Schaufenster des Volksstimme-Ladens von 1898 waren solche spaßigen Bücher, Bilder und Heftchen auch ausgelegt. Vielleicht waren auch Bildchen von strammen Sportlern, hübsch bekleideten Sängerinnen oder berühmten Artisten dabei? Dies ist im Detail leider nicht überliefert. Aber, wie man heute sagen würde: Der Laden wurde ein bisschen Kult in der Stadt.

Zunehmend kam es vor dem Schaufenster zu Ansammlungen von Jugendlichen. Dies blieb der Polizei nicht verborgen. Der Volksstimme wurde eine böswillige Beeinflussung der Jugend unterstellt – im Sinne des Sozialismus, versteht sich. Doch was tun dagegen? Weder ein Schließen des Ladens noch ein Verhängen der Schaufenster ließ sich rechtlich durchsetzen. Also beschloss die Polizei, Schutzmänner als Dauerposten vor dem Schaufenster aufzustellen. Diese sollten junge Menschen vom Betrachten der "verführerischen" Auslagen in den Schaufenstern abhalten und sie gegebenenfalls verscheuchen.

Gesagt, getan: Am 22. November 1898 bezog der erste Doppelposten vor dem Volksstimme-Schaufenster Quartier. Mit Ausnahme von Sonn- und Feiertagen wurde der Laden im Stadtzentrum täglich bewacht. Die Nachricht von der Polizeiwache gegen den Sozialismus verbreitete sich in Windeseile. Viele deutsche und ausländische Zeitungen rissen Witze über die Volksstimme-Polizisten. In Magdeburg wurde das Schaufenster zu einem beliebten Ausflugspunkt der Innenstadt. Kurz: Der Laden war nun erst richtig Kult.

Dies konnte die Polizei bald nicht mehr ertragen. Sie trat den geordneten Rückzug an. Der 18. Januar 1899 war der letzte Tag der Bewachung. Bis dahin hatten 336 Schutzmänner genau 564 Stunden aufgepasst. Schade, werden sich die Verlagsleute gedacht haben. Dem Verkaufsgeschäft des Volksstimme-Ladens hat die Polizeiwache garantiert nicht geschadet.