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Poucher Faltboote Volle Fahrt mit neuem Kapitän in Bitterfeld

Nach der Wende rettet Helmar Becker die DDR-Jolle Ixylon. Jetzt hat er sich den Faltbooten in Bitterfeld angenommen.

02.11.2017, 23:01

Bitterfeld l Wer Helmar Becker zuhört, bekommt schnell den Eindruck, dass der Mann mehr als sein halbes Leben auf dem Wasser verbracht hat. Während seines Studiums eröffnete er gemeinsam mit ein paar Kumpels einen Bootsverleih mit Segelschule. Jedes Jahr nimmt er noch immer an mehr als 20 Wettfahrten teil. Becker ist aber auch ein Retter. Nach der Wende bewahrte er die DDR-Jolle Ixylon vor dem Untergang. Als der Hersteller, eine Berliner Werft, aus finanziellen Gründen nicht mehr produzieren konnte, entschied Becker kurzerhand die Boote selbst zu fertigen. Das war vor etwa zwei Jahrzehnten. Heute verlassen rund 50 Jollen im Jahr die Hallen in Bitterfeld. Darauf ist Becker stolz.

Seit dem vergangenen Jahr muss Becker erneut seine Retter-Qualitäten unter Beweis stellen. Wieder geht es um alte Liebhaber-Stücke aus der DDR. Wieder sind seine Wassersport-Kenntnisse gefragt. Becker soll die Poucher Faltboote nach der Insolvenz auf Kurs bringen. Der neue Eigentümer, ein Bitterfelder Unternehmer, hatte das Projekt Neustart in Beckers Hände übergeben.

Becker weiß, dass nostalgische Gefühle nach einer Insolvenz keine Rolle spielen. Es geht um Zahlen. Die sind eindeutig. Aber ausgerechnet die Faltboote aus Pouch stehen für ein besonderes Lebensgefühl der ehemaligen DDR. Es geht um Freiheit, um den Drang aufzubrechen und einfach loszupaddeln. Vieles in dem Staat hatte sich früher dagegen verwehrt. Die Faltboote aus Pouch machten genau das möglich. In Spitzenzeiten sind mehr als 7000 Stück pro Jahr hergestellt worden. Die Faszination Faltboot lebt deswegen bis heute.

Geübte Mitarbeiter, sagt Becker, brauchen nicht mal 15 Minuten, um das Boot samt Holzgerüst und Außenhaut aufzubauen. Einfachheit war schon immer Trumpf bei den Faltbooten. Im verpackten Zustand lässt sich das eigentlich rund fünf Meter lange Gefährt bequem in einer Tasche im Kofferraum transportieren. Das lockt noch heute Kunden an. Deutsche, Österreicher, aber auch Interessenten aus der ganzen Welt. Erst vor einigen Wochen lieferte Becker zwei Faltboote in die Vereinigten Arabischen Emirate. „Immer nur mit dem Jeep durch die Wüste fahren, das ist out“, flachst Becker. „Dort fahren die Leute jetzt mit dem Faltboot in die Mangroven.“

Dass Becker so befreit über neue Kunden sprechen kann, ist auch ein Stück weit erleichternd. Im vergangenen Jahr hatte der Wassersport-Fachmann die Werkstatt mit neun Mitarbeitern als Geschäftsführer übernommen. Er krempelte den Laden radikal um. Dazu muss man wissen, dass Becker in jungen Jahren Fabrikplanung studiert hat. Er weiß also, was es braucht, eine Produktion so aufzubauen, damit sie möglichst effektiv funktioniert. Daran hatte es vor der Insolvenz mitunter gehapert, erzählen Beobachter.

Der alternde, frühere Geschäftsführer Ingolf Nitschke hatte unternehmerische Qualitäten mehr und mehr vermissen lassen. Die Faltboote hatten lange Lieferzeiten, was auch an unzureichenden Lagerbeständen lag. Teilweise mussten Kunden bis zu acht Monate auf ein Boot warten. Noch ein Indiz für Misswirtschaft: Als Becker die Geschäftsführung übernahm, waren die Auftragsbücher gut gefüllt. Mehr als 150 Bestellungen mussten noch abgearbeitet werden.

Heute erzählen sich die Poucher, Nitschke hatte wohl nur einen Nachfolger gesucht, der das Geschäft weiterführen sollte. Dass der Gang in die Insolvenz als Instrument dafür nur bedingt geeignet ist, dürfte auch Nitschke mittlerweile klar sein. „Das öffentliche Bild der Poucher Faltboote hat gelitten“, sagt Helmar Becker deutlich. Gleichzeitig betont er, dass immer weiter produziert worden sei.

Unter dem früheren Besitzer verließen jedes Jahr rund 50 Faltboote das Werk. Becker peilt im nächsten Jahr bereits die Marke von 100 Stück an. In den Hallen der kleinen Bootsschmiede sitzt jeder Handgriff. Aus mehr als 100 Einzelteilen werden die Wasser-Flitzer zusammengesetzt. Becker geht aus dem Verkaufsraum über die Türschwelle zur Fertigung. Wonach riecht es denn hier, fragt der Reporter mit der untrainierten Nase. Kleber vielleicht, oder Kunststoff. Nein, sagt Becker. „Was hier am meisten stinkt, ist das alte Faltboot.“ Auf der Arbeitsplatte liegt ein richtig altes Teil. Aus den Fünfzigerjahren, schätzt Becker. Genau kann er das nicht mehr sagen. Mitarbeiter Frank Lamorski bessert gerade den Rumpf des Bootes mit ein paar Kielstreifen aus. Das Faltboot-Werk bietet auch Reparatur-Arbeiten an. „Wenn die Boote lange verpackt waren und hier ausgepackt werden, dann muffeln die erstmal“, sagt Helmar Becker.

Tatsächlich sind vor allem die Reparaturen ein noch immer lohnendes Geschäft. Seit 1953 sind in Pouch Faltboote hergestellt worden. In Spitzenzeiten stellten 200 Beschäftigte bis zu 7000 Stück im Jahr her. Das sah der DDR-Plan so vor, der bis zur Wende strikt durchgezogen wurde.

Auch in den Westen sind die Bitterfelder Boote damals verkauft worden. In den Kaufhäusern der Bundesrepublik gingen die Schiffchen damals für rund 600 Mark über den Ladentisch. Dass dieser Preis viel zu günstig war und die Herstellungskosten nicht einmal annähernd decken konnte, stellte sich nach der Wiedervereinigung schnell heraus.

In der Marktwirtschaft passten die Bitterfelder ihren Preis an. Plötzlich sollten die Boote rund 1800 Mark kosten. Das war selbst einigen gut verdienenden West-Bürgern zu viel. Die Poucher Faltboote wurden zu Ladenhütern. Dem Werk ging es schlecht. Zunächst ließen sich die sinkenden Absatzzahlen durch Tischlerei-Arbeiten auffangen. Doch lange ging das nicht gut. Viele Mitarbeiter wurden entlassen. Dann versuchte Ingolf Nitschke im kleinen Rahmen den Neustart, der auch gelang.

Heute fährt Helmar Becker weit, um Kunden für seine Boote – die Ixylons und die Faltboote – zu begeistern. Eine Handvoll Wassersportmessen besucht er jedes Jahr. Neben dem eigenen Online-Shop sind die Vor-Ort-Termine die wichtigste Plattform, um die Faltboote, die zwischen 2700 und 3600 Euro kosten, an den Mann zu bringen. Im November will er auf der Hamburger Hanse-Boot mit einer neuen Faltboot-Kreation begeistern. In dem Vierer-Kajak steckt ein halbes Jahr Entwicklungsarbeit. Becker lobt die Fahreigenschaften des Bootes, zudem ist der Kahn noch mal leichter geworden.

Das neue Modell soll auch ein Zeichen für den Aufbruch sein. Becker hat etwas bewegt. In Hamburg will er deshalb auch unter Beweis stellen, dass die Poucher Faltboote wieder voll in Fahrt sind – und mit ihm als Kapitän den richtigen Kurs eingeschlagen haben.