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Privat-RestaurantZum Menü ins Wohnzimmer

Christian Krüger bekocht in seinem Zuhause in Fleetmark regelmäßig zwölf Gäste.

Von Bianca Kahl 26.05.2018, 23:01

Fleetmark l "Wir beginnen mit zweierlei Brot – mit Walnuss und Saat.“ Mit diesen Worten eröffnet Christian Krüger den Abend. Auf dem massiven Esstisch finden sich Reagenzgläser, die in den Bohrlöchern eines dicken Astes stecken und mit Gewürzen befüllt sind. „Dänisches Rauchsalz“, „Lavendelsalz“ und „Chilisalz mit Vanille“ steht darauf. Daneben die Tischdeko: ein Blumengebinde, an dem auch eine Ingwerwurzel und ein Suppenlöffel befestigt sind. Um den Esstisch herum, direkt neben der Sofalandschaft und dem großen Flachbildfernseher, sitzen zwölf Personen, von denen sich die meisten noch gar nicht kennen.

Eine Tafel an der Wand verrät, was die Runde heute Abend vorhat: Sie wird gemeinsam ein typisches Menü von „Tisch 12“ genießen, dem kleinen Wohnzimmerrestaurant von Christian Krüger und seiner Frau Beate in Fleetmark, einem Ortsteil der altmärkischen Stadt Arendsee. Aus der Luft betrachtet gleicht der Ort mit gerade mal 500 Einwohnern einem Quadrat.

Der rechteckige Esstisch für zwölf Personen befindet sich im privaten Wohnzimmer der Familie Krüger, in einer Einfamilienhaussiedlung am westlichen Ortsrand. Wohnraum und Küche gehen nahtlos ineinander über. Restaurant und Familienleben auch. Man muss nur um die Ecke schauen, um den Chef und seiner geliebten Gehilfin bei der Arbeit zuzusehen und zugleich mitzuerleben, wie sich eine der Töchter nur schnell ein Getränk holt und dann in der oberen Etage verschwindet.

„Die Menschen hier in Fleetmark kannten mich 20 Jahre lang als Maurer“, erzählt Christian Krüger. Später arbeitete er in der privaten Arbeitsvermittlung seiner Ehefrau mit. Doch das habe er irgendwann aufgegeben. „Ach was. Ich habe dich gekündigt“, wirft seine Frau mit einem Augenzwinkern ein. Der Grund dafür ist, dass er kaum noch Zeit für das Büro fand. Denn mehr und mehr wurde sein Hobby zur Leidenschaft und die Leidenschaft zum Beruf.

Alles hatte damit begonnen, dass Beate Krüger aus beruflichen Gründen ein Jahr lang in Amerika lebte. Das hatte ihren Mann Christian in die Situation gebracht, zu Hause allein den Haushalt zu schmeißen – und auch selbst zu kochen. Und siehe da: Es machte ihm Freude. So viel Freude, dass er seine Nase immer tiefer in die Kochtöpfe eintauchte.

Irgendwann nahm er an einem Kurs des bekannten Fernsehkoches Johann Lafer teil und trat direkt in dessen Kochclub ein. Seither hat Christian Krüger so heftig Feuer gefangen, dass sein eigener Herd gar nicht mehr kalt wird. Das Kochen, das Befassen mit Rezepten, Techniken und guten Zutaten wurde zur Lebenseinstellung. „Ich bilde mich immer weiter, bin wieder und wieder auf der Suche nach Neuem“, erzählt der 45-Jährige.

Damit meint er zum Beispiel gute, regionale Produkte, von denen sich auf seiner Karte so einige finden – vor allem Getränke. „An Alkohol findet man in unserer Gegend ja alles“, stellt er schmunzelnd fest. Darüber hinaus gäbe es aber noch viel Luft nach oben.

Doch eigentlich hat der Chef de Cuisine gerade gar keine Zeit zum Plaudern. Insgesamt sieben Gänge stehen heute auf der schwarzen Tafel im Wohnzimmer. „Ente I roter Spitzkohl I Traube“ heißt es dort ganz oben. Danach folgen „Couscous I Karotte I Senfkörner“ und „Gemüsewürfel I Apfel I Sellerie“. Das verrät nicht zu viel. Auch bei den Formulierungen bleibt „Luft nach oben“, um den Wow-Effekt beim Servieren jedes Ganges nicht zu verderben.

So wird die scheinbar unscheinbare „Karotte“ in pfiffigen Variationen aufgetischt und kommt insgesamt in Gestalt einer Schnecke daher. Der „Gemüsewürfel“ hingegen entpuppt sich als eine Art Zauberwürfel aus verschiedenen, in Würfel geschnittene Gemüsesorten. Die zugehörige Suppe gießt man sich selbst aus einem Schälchen auf den Teller.

Serviert wird in schwarzen Handschuhen. Nach dem Highlight des Abends befragt, sagt der Chef nur knapp: „Der Apfel.“ Das soll heute Abend das Dessert werden – nach unglaublich zarten Kalbsbäckchen als Hauptgang.

Das Menü wechselt in der Regel alle drei Monate. Drei junge Damen mit Blumenkränzen im Haar stehen jetzt vor der Arbeitsfläche und schauen Christian Krüger und seiner Frau auf die Finger, stellen ein paar Fragen. Sie feiern einen Junggesellinnenabschied ganz ruhiger und kultivierter Natur. Einer Empfehlung von Bekannten und Kollegen folgten sie an den „Tisch12“.

Das Wohnzimmerrestaurant ist beliebt in der Gegend, vor allem für die Gelegenheiten, an denen man etwas ganz Besonderes sucht. Abend für Abend reisen die Gäste aus einem Umkreis von etwa 100 Kilometern an.

Als Krügers vor vier Jahren damit begonnen haben, ihr Wohnzimmer für Fremde zu öffnen, boten sie etwa zwei Termine pro Monat an. „Da kam es schon mal vor, dass weniger als sechs Leute da waren.“ Es ging darum, sich auszuprobieren, ohne gleich das Risiko einzugehen, ein ganzes Restaurant zu betreiben.

Den ersten Abend kündigten die Fleetmarker über die Volksstimme an – und holten zwölf neugierige Menschen an den Tisch, die hier zu Freunden wurden. Sie waren so begeistert, dass sie bis heute den Stammtisch bilden. In gleicher Formation kommen sie hier immer wieder zusammen und testen jedes neue Menü. Sie geben ehrliche Rückmeldungen und wünschen sich auch Gerichte, die am Ende auf die Karte kommen.

Mittlerweile ist das Wohnzimmerrestaurant in Fleetmark zur Marke geworden. Regelmäßig melden sich Gruppen an. Wenn Termine frei bleiben, schreibt Christian Krüger sie über seine Internetseite für Reservierungen aus. Doch ist seine Küche mittlerweile so beliebt, dass immer weniger Tage übrigbleiben, die er überhaupt veröffentlichen kann – und auch immer weniger Abende, in denen er mit Frau und Kindern sein eigenes Wohnzimmer mal für sich allein hat. Immer wieder denkt der Koch über ein „richtiges“ Restaurant nach, träumt von einem Stern als Auszeichnung.

Doch viel wichtiger als das ist ihm die Vorbildwirkung seiner Arbeit. Er will die Menschen im wörtlichen Sinne „auf den Geschmack“ für gute Küche bringen. Wer hier zufrieden speist, bei der Zubereitung zuschauen kann und dem Koch am Ende des Abends Löcher in den Bauch fragt, der bereitet sich vielleicht auch zu Hause bald ein feines Essen zu. Denn der Sinn für gute Qualität und liebevolle Zubereitung von Speisen gehe in vielen Haushalten einfach verloren, findet Christian Krüger.

Deshalb geht er sogar noch einen Schritt weiter und kocht jeden Montag mit Kindern in der Grundschule. Zurzeit entsteht dabei auch ein Kochbuch mit den beliebtesten Rezepten. Wenn der Fleetmarker dann später Nachrichten davon erhält, was die Kinder mit ihren Eltern zu Hause gemeinsam zubereitet haben, dann ist das für ihn wie ein Apfel aus dem Paradiesgarten.

Apropos Apfel: Ganz sachte legt Christian Krüger gerade ein Minzeblatt nach dem anderen auf die roten, runden „Früchte“, während seine Frau stets einen „Stiel“ aus Schokolade an der richtigen Stelle bereithält. Der Höhepunkt des Abends wird serviert und die Runde staunt: „Was ist das – Marzipan?“ Das wäre zu einfach. „Der Apfel“, wie er schlicht angekündigt worden war, besteht aus Topfencreme auf Wiener Boden, gefüllt mit karamellisiertem Apfelmus.

Die jungen Damen mit Blumenkranz holen ihre Handys hervor, um den letzten Gang zu fotografieren. „Wie macht man das?“, fragen sie verblüfft. Christan Krüger und seine Frau setzen sich mit an den Tisch, schenken sich und ihren Gästen einen Schnaps ein und haben endlich etwas Zeit zum Plaudern. Das wird sicher wieder ein langer Abend.

Mehr Infos im Internet unter www.tisch-12.de.