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Psychiater-Paar Die Seelenheiler von Uchtspringe

Seit einem halben Jahrhundert behandeln Dr. Volkmar und Dr. Erika Lischka in Uchtspringe psychisch kranke Menschen.

28.10.2017, 23:01

Uchtspringe l Wie stellt man sich ein Ehepaar vor, das seit 50 Jahren in die Welt von Depressiven, Schizophrenen und Süchtigen eintaucht? Wohl eher ruhig und ernst. Vermutlich recht abgeklärt. Auf jeden Fall anders als die Lischkas. Das sachte Herantasten an den Interviewpartner, bis er einem zumindest halbwegs vertraut, das erlassen sie einem einfach. Der Block klemmt noch in der Reportertasche, da steckt man schon mittendrin in ihrer Welt. Eine Welt voll von Enthusiasmus und Offenheit.

Während Erika Lischka Kaffee einschenkt und herzlich den Kirschkuchen mit Pudding empfiehlt, plaudert ihr Mann Volkmar schon darüber, warum es die beiden nicht stört, dass ihr Haus nur einen Steinwurf von der Psychiatrie entfernt steht, in der sie arbeiten. „Abschalten? Warum denn? Natürlich geht einem vieles nahe, aber es ist doch wichtig, mit Gefühl dabei zu sein.“

Die Lischkas gehören zum Uchtspringer Salus-Fachklinikum wie Thiel und Boerne zum Münsteraner „Tatort“. Nicht nur, weil sie dort seit einem halben Jahrhundert ein- und ausgehen. Volkmar Lischka war mehr als zehn Jahre lang Ärztlicher Direktor der Einrichtung – die übrigens größtenteils offene Stationen hat. In dieser Zeit etablierte er in Uchtspringe die Schlafmedizin. Er baute auch den Maßregelvollzug für Straftäter einige Straßen weiter auf, der aber inzwischen schon lange eigenständig verwaltet wird.

Erika Lischka leitete die Kinder- und Jugendpsychiatrie; gemeinsam mit ihrem Mann und einer Pädagogin rief sie ein Zentrum ins Leben, in dem hörgeschädigte Mädchen und Jungen mit psychischen Problemen von Teams behandelt werden, die Gebärdensprache beherrschen – bis heute das bundesweit einzige. Inzwischen sind die Psychiater 76 und 74 Jahre alt und noch einmal pro Woche in Uchtspringe im Dienst.

Kennengelernt haben sie sich schon vor ihrer Zeit in der Altmark, beim Medizinstudium in Dresden. Da war Uchtspringe für die Lischkas noch ein weißer Fleck auf der Landkarte. Sie, Sächsin, kannte die Region gar nicht, er, Brandenburger, immerhin die Fußballer von Lok Stendal. Dass die beiden nach ihrer Ausbildung ausgerechnet dort landeten, verdanken sie dem damaligen Klinikdirektor von Uchtspringe, Harro Wendt, erzählen sie. Denn der hielt einmal in Dresden eine Gastvorlesung, die mächtig Eindruck hinterließ.

„Er war DIE Vertretung für analytische Psychotherapie“, sagt Volkmar Lischka mit einer Begeisterung, als käme er frisch aus dem Hörsaal. Uchtspringe war zu dieser Zeit der einzige Ort im Osten, an dem diese Richtung umgesetzt wurde. Sie geht davon aus, dass psychische Störungen durch bestimmte Erlebnisse bedingt sind und beschäftigt sich mit deren Aufarbeitung. Normalerweise setzte man im Osten lieber darauf, direkt auf das Hier und Jetzt zu reagieren – in Form von Verhaltenstherapie.

Überhaupt schwärmen die Lischkas viel von Kollegen. Von einem Psychiatrie-Professor aus dem dritten Studienjahr, der „so dynamisch und modern“ war. Von einem sächsischen Klinik-Chef aus der Zeit der Facharzt-Ausbildung, der seine Stationsschwestern anwies, für die Ärzte rund um die Uhr warme Milch bereitzustellen. Spricht man sie auf diese Schwärmerei an, dann offenbart sich ein Stück weit, warum die beiden auch nach 50 Jahren so aufblühen, wenn sie über ihren Job sprechen. „Psychiater wird man nicht aus wirtschaftlichen Gründen. Es sind Menschen, denen es um Menschen geht.“ Das hätten sie in den Jahren erlebt, die sie prägten. Und das würden sie noch heute erleben.

Nur wie ist es möglich, diese positive Energie selbst dann zu bewahren, wenn ein Patient Suizid begeht? Beide haben so etwas schon erlebt. Für Volkmar Lischka war ein Fall besonders hart: Erst behandelte er ambulant einen Arzt mit Depressionen, der eines Tages auf dem Weg zur Therapiesitzung – offensichtlich mit Absicht – gegen einen Baum fuhr und starb. Ein paar Jahre später saß dann dessen Sohn bei ihm. Gleiche Diagnose. Er wollte sich partout nicht einweisen lassen – und nahm sich schließlich auch das Leben.

„So etwas wird man nicht los“, sagt der Psychiater erst. Dann streut er über den ernsten Satz gleich eine Prise Lischka‘sche Zuversicht: „Aber das ist nicht nur schlimm.“ Warum? „Man wird dadurch reifer und wachsamer.“ – „Und demütiger“, ergänzt seine Frau. Nur eines werde man nicht: abgeklärt. Seelische Abgründe und Routine, das gehört einfach nicht zusammen.

Doch bei aller Zuversicht: Wenn gleich beide Partner ständig von psychisch kranken Menschen umgeben sind, belastet das dann nicht irgendwann die Ehe? Volkmar Lischka winkt ab: „Ach Gott, nein! Wenn Konflikte zwischen Mann und Frau entstehen, dann fußen sie darauf, dass der Mann keine männliche Frau und die Frau kein weiblicher Mann ist.“ Jetzt noch mal im Ernst: „Psychiatrie ist nicht so belastend, wie Sie es sich vorstellen. Zumindest dann nicht, wenn man Interesse und Freude daran hat.“ Er findet sogar, dass die Arbeit ihrer Ehe hilft: Schließlich sind die beiden von Berufs wegen Experten in Konfliktbewältigung.

Abgesehen davon kennt ihre Liebe zum Job auch Grenzen: Wenn die beiden am Abendbrotstisch ihre Stullen schmieren, bleibt die Psychiatrie in der Psychiatrie. „Da reden wir lieber über die Nachbarn“, witzelt die Hausherrin mit ihrem liebenswerten Lachen.

Die Krankheitsbilder, die das Ehepaar heute am häufigsten behandelt, sind übrigens dieselben wie früher: Depressionen bei Erwachsenen, Aggressionen bei Kindern. In ihren ersten Jahren therapierten die beiden oft auch psychische Folgen organischer Krankheiten, die man inzwischen im Griff hat; Syphilis etwa löste nicht selten Größenwahn aus.

Und die modern betitelten Störungen wie ADHS und Burnout? Die habe es im Grunde damals auch schon gegeben. „Vielleicht hat man das nicht immer so erkannt“, sagt Erika Lischka. „Aber um manche Dinge wurde auch nicht so viel Wirtschaft gemacht.“ Ihr Mann springt ihr mit einem Beispiel zur Seite: „Als ich klein war, musste meine Mutter um Drei aufstehen, mit dem Rad 20 Kilometer zum Bauern fahren und bei ihm um Essen betteln. Außerdem hatte sie vier Kinder. Wo war ihr Burnout?“

Auch wenn es also nicht viel Neues bei den Krankheiten gab, gelangweilt haben sich die Lischkas in Uchtspringe nie. Schon deshalb, weil zwischendurch ein ganzes Staatssystem ausgetauscht wurde. Im ersten machte ihnen vor allem der Mangel zu schaffen – zum Beispiel, wenn es wochenlang durch die Decke regnete.

Im zweiten System, da hatten die beiden anfangs mächtig an den Vorurteilen von Kollegen aus dem Westen zu knabbern. Als sie auf dieses Thema kommen, ebbt die Fröhlichkeitswelle der beiden plötzlich ab. „Wir wurden pauschalisiert“, sagt Volkmar Lischka mit ernster Miene. „Es hieß, Psychiatrie hätte es in der DDR nicht gegeben, weil wir alle Stasi-indoktriniert gewesen seien. Das waren schlimme Kränkungen.“

Aber die Lischkas wären nicht die Lischkas, würden sie das Gespräch in dieser Stimmung enden lassen. Es ist zwar schon viel später als geplant und sie muss gleich nach Magdeburg zum Italienisch-Kurs, aber die beiden wollen unbedingt auch noch lustige Geschichten loswerden, jeder zwei. Eine davon ist nicht nur lustig. Sie zeigt auch, dass manche Patienten eine Art Energiequelle sind.

Schauplatz: ein Stendaler Kaufhaus. Volkmar Lischka hört, wie jemand quer durch die Gänge ruft: „Herr Doktor, Sie kennen mich wohl nich` mehr!“ Es ist ein Landwirt, an dessen Bett er einige Jahre zuvor stand, als der Mann fast tot auf der Intensivstation lag. Trinker, Delirium. Dieser quicklebendige Landwirt verkündet also für jedermann hörbar, wie es ihm ergangen ist: „Sie haben mir das Leben gerettet! Jetzt hab ich 20 Schweine und `ne Frau!“r