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Recht Kampf um den Behindertenparkplatz

Seit einem Schlaganfall 2014 ist Gerald Berkau schwerbehindert. Bis heute darf seine Familie aber keinen Behindertenparkplatz nutzen.

08.09.2020, 10:12

Seehausen l Wenn Wilfried Schnelle seinen Schwager zum Krankenhaus fährt, ist er immer auch auf eine kleine Wanderung eingestellt. Wie vor vielen Krankenhäusern in Sachsen-Anhalt, herrscht auch in Seehausen Parkverbot. Zwar gibt es Parkplätze für Behinderte, aber die darf die Familie nicht nutzen. Der Grund: Berkau, der seit einem Schlaganfall vor sechs Jahren halbseitig gelähmt ist und im Rollstuhl sitzt, besitzt keinen EU-Sonderparkausweis. Denn: Wer einen Schwerbehindertenausweis hat, darf damit nicht automatisch Behindertenparkplätze nutzen.

Den kleinen blauen Schein erhält man nur, wenn im Schwerbehindertenausweis die Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) oder Bl (blind) verzeichnet sind. „Wir haben alles versucht, immer wieder, aber wir bekommen den Behindertenparkausweis einfach nicht“, sagt Berkaus Schwester Sigrid Schnelle. Seit dem Schlaganfall im September 2014 in Leipzig, Berkaus damaliger Arbeits- und Wohnort, hat die Familie wiederholt einen Antrag auf Anerkennung des Merkzeichens aG im Schwerbehindertenausweis gestellt – ohne Erfolg.

Doch von vorn: Das Sozialamt Leipzig stellte 2015 den Grad der Behinderung (GdB) bei Berkau mit 100 fest. Nach dem Sozialgesetzbuch wird ein Mensch als schwerbehindert bezeichnet, wenn mindestens ein GdB von 50 zugesprochen wird. Damals wurde Berkau zunächst nur das Merkzeichen RF zuerkannt, was eine Ermäßigung von der Rundfunkbeitragspflicht zur Folge hatte. Nach einem Reha-Aufenthalt und der Einordnung in die Pflegestufe 3, entschied Schnelle, ihren Bruder bei sich in Seehausen (Landkreis Stendal) aufzunehmen. Damit war künftig das Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt für Berkau zuständig. Dorthin richtete Sigrid Schnelle auch ihren Widerspruch – mit einem Teilerfolg.

So blieb der Grad der Behinderung mit 100 festgestellt und zusätzlich wurden die Merkzeichen G, H und B anerkannt. Berkau ist also erheblich beeinträchtigt in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (G), ständig auf fremde Hilfe angewiesen (H) und darf seitdem im öffentlichen Nahverkehr eine Begleitperson mitnehmen (B).

Die Anerkennung des Merkzeichens aG wurde jedoch wieder abgelehnt. Darauf legten Berkau und seine Familie erneut Widerspruch ein – ohne Erfolg.

Die Voraussetzungen für die Anerkennung des beantragten Merkzeichens aG lägen nicht vor, heißt es in dem Widerspruchsbescheid. Als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung seien Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Eine Auswertung verschiedener Befundberichte und medizinischer Gutachten hätte ergeben, dass sich der 62-Jährige durchaus mit Hilfsmitteln und einer Begleitperson fortbewegen kann. In dem Widerspruchsbescheid heißt es weiter: „Unstrittig ist dabei, dass aufgrund der schweren Behinderung eine erhebliche Einschränkung der Fortbewegung besteht.“

Die Einschränkung sei nach Art und Ausmaß jedoch nicht derart ausgeprägt wie von der Rechtsprechung verlangt, um die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung zu erfüllen. „Der Gang mit dem Rollator und Gehbock ist gar nicht mehr möglich“, sagt hingegen Berkaus Neffe, Sven Schnelle. „Mein Onkel hat keine Kontrolle mehr über die linke Hand. Nach zwei Minuten schmerzt die Hand und fällt unkontrolliert herunter.“ Und auch das Gehen mit einem Vierpunkt-Gehstock sei nur noch in Begleitung und mit Pausen machbar.

Doch dieser Umstand scheint nicht auszureichen, um das begehrte Merkzeichen und damit den Sonderparkausweis zu erhalten. So blieb auch ein Antrag auf Erteilung einer Ausnahmeregelung zur Bewilligung von Parkerleichterungen beim Straßenverkehrsamt Stendal erfolglos. Ebenso wie vor drei Jahren ein erneuter Antrag beim Landesverwaltungsamt.

Stattdessen wurde Berkau das Merkzeichen H entzogen und der Grad der Behinderung mit 90 festgestellt. Bis heute kämpft die Familie um die Anerkennung des Merkzeichens aG und um das Recht, Behindertenparkplätze nutzen zu dürfen. Erst im Juni dieses Jahres flatterte ein erneuter Ablehnungsbescheid ins Haus.

Doch warum ist es so schwer, dieses Merkzeichen anerkannt zu bekommen? Für Gernot Huwald, Justiziar beim Sozialverband Vdk Sachsen-Anhalt, ist die Frage recht einfach zu beantworten: „Es geht hier konkret um die Verteilung des Mangels.“ Von den Behindertenparkplätzen gebe es nur eine begrenzte Anzahl und die sollten eben nur den Personen zukommen, die in Hinblick auf ihre persönliche Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehr besonders eingeschränkt und belastet sind. Nach Angaben des Verkehrsministeriums gab es 2018 genau 2710 Behindertenparkplätze in Sachsen-Anhalt. 741 davon waren personengebunden, 1969 frei verfügbar.

Nach Angaben des Landesverwaltungsamtes waren 2019 rund 12 890 schwerbehinderte Menschen im Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen aG. Dass bei Weitem nicht all diese Menschen einen blauen Sonderparkausweis benötigen, zeigt eine andere Statistik. So geht aus einer Großen Anfrage der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN von Ende Februar dieses Jahres hervor, dass derzeit 7789 blaue Parkausweise in Sachsen-Anhalt beansprucht werden. Eine Statistik über abgelehnte Anträge, so heißt es in der Antwort, werde nicht geführt.

„In der Bewertung und Beurteilung dieser Voraussetzungen gibt es einen breiten Gedankenspielraum“, so Huwald. „Darin liegt die Grundproblematik. Jeder Mitarbeiter des Landesverwaltungsamtes und jeder Richter kann hier sein Ermessen entsprechend den gesetzlichen Möglichkeiten ausüben.“ So bleibe es eben immer eine Einzelfallentscheidung. Und auch Jürgen Hildebrand, Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Sachsen-Anhalt, sagt: „Aus meiner Sicht gehen die Entscheider nur von Akten aus, ohne den konkreten Menschen zu kennen und seine Situation zu beachten.“

So fühlt es sich seit nunmehr sechs Jahren auch für Familie Schnelle an. „Es ist richtig, dass Herr Berkau zur Fortbewegung auf orthopädische Hilfsmittel und auch auf eine Begleitperson angewiesen ist, jedoch ist den medizinischen Unterlagen zu entnehmen, dass er sich mit Gehhilfen 80 Meter und mit Rollator 150 Meter zu Fuß fortbewegen kann“, erklärte eine Sprecherin des Landesverwaltungsamts auf Anfrage. Familie Schnelle widerspricht dieser Aussage. „Die Gehstrecke ist unterschiedlich, aber die erste Pause muss er nach 10 bis 15 Metern machen und dauert auch dementsprechend lange“, so Sven Schnelle.

Sicherlich sei die Fortbewegung außerhalb eines Kraftfahrzeugs beschwerlich, jedoch hätte der Gesetzgeber hohe Hürden an die Feststellung des Merkzeichens aG geknüpft, erklärte die Sprecherin weiter und verwies auf das 2017 eingeführte Bundesteilhabegesetz. „Mit der Neuregelung wurde an dem Grundsatz festgehalten, dass das Recht, Behindertenparkplätze nutzen zu dürfen, nur unter engen Voraussetzungen eingeräumt werden darf.“

Klar ist, dass die Erteilung des Merkzeichens aG bei vielen Versorungsämtern Top-Thema ist. So erklärte der Landesbehindertenbeauftragte Christian Walbrach, dass im Gespräch mit Mitarbeitern des Versorgungsamtes Halle deutlich wurde, „dass das Merkzeichen aG mit die stärksten Herausforderungen im Zuge der dortigen Verwaltungsarbeit beinhaltet“.

Doch diese Erkenntnis hilft Familie Schnelle aktuell wenig weiter. Mittlerweile hat sich viel Resignation breitgemacht – und dennoch: „Nach so viel Mühe und investierter Zeit werden wir nicht aufgeben und es weiter versuchen“, sagt Sven Schnelle. „Wir werden uns als nächstes die Aufmerksamkeit durch das Fernsehen verschaffen und hoffen weiter."