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Rechtsmedizin Der Zahn-Experte aus Halle bei Interpol

Rüdiger Lessig aus Halle hilft weltweit, unbekannte Opfer an ihrem Gebiss zu identifizieren. Der Professor ist ein gefragter Mann.

Von Matthias Fricke 12.11.2019, 00:01

Halle l Das Licht schimmert bläulich-grau durch die Röntgenaufnahme eines Gebisses auf der Projektionswand. Es ist die Frontalaufnahme der Zähne eines unbekannten Mannes. Polizisten fanden ihn in einem Haus und haben auch schon einen Verdacht. Sie benötigen aber Sicherheit. Ist der Tote tatsächlich auch der Bewohner?

„Hier, der eins-vier oben hatte schon eine Behandlung“, sagt Rechtsmediziner Professor Rüdiger Lessig und zeigt auf eine helle Fläche. „Der Zahnarzt hat dort mal einen Wurzelkanal behandelt und eine Stiftkrone aufgesetzt“, ergänzt der 61-Jährige. Er vergleicht das Gebiss des Unbekannten mit der älteren Aufnahme eines Zahnarztes des mutmaßlichen Bewohners.

Jeden einzelnen Zahn vergleicht der Mediziner, bis er sich sicher ist: Auch die anderen Zähne weisen identische Gemeinsamkeiten auf. Lessig: „Das ist ähnlich wie beim Vergleich der Fingerabdrücke. Auch jedes Gebiss ist immer anders. Es ist höchst individuell.“

Für den renommierten Rechtsmediziner ist die forensische Gebiss-Analyse besonders effektiv. Denn manchmal gibt es zum Beispiel keine Fingerabdrücke mehr, oder eine Vergleichs-DNA von Verwandten des Opfers liegt nicht vor. Der Wissenschaftler erklärt: „Zähne sind hingegen sehr widerstandsfähig und können auch bei hohen Temperaturen, wie zum Beispiel Bränden, erhalten bleiben.“

Die Identifizierung von Toten gehört für ihn als Leiter der Rechtsmedizin auch zum „Alltag“. Er ist Chef von vier Ärzten in der Außenstelle Magdeburg, sechs weitere arbeiten in Halle. In Magdeburg gibt es 350 bis 400 Obduktionen im Jahr, in Halle sind es 300 bis 350.

Hinzukommen zahlreiche Untersuchungen von lebenden Gewaltopfern, zum Beispiel wegen des Verdachts auf Kindesmisshandlung oder häuslicher Gewalt. Zu den weiteren Arbeitsgebieten gehören auch forensische Lebensalterschätzungen, das Erstellen von Gutachten bei Verdacht auf ärztliche Behandlungsfehler oder auch Blutentnahmen zur Feststellung eines Alkohol- oder Drogeneinflusses bei Straftaten. Die Rechtsmediziner des Institutes treten auch sehr häufig bei Gerichtsverhandlungen als Sachverständige auf.

Lessigs Fachkompetenz als Wissenschaftler ist nicht nur in Sachsen-Anhalt gefragt. Bereits im Jahr 2004, nach der Tsunami-Katastrophe in Asien, half Lessig bei der Identifizierung der Opfer in Thailand mit. Unter ihnen waren auch Hunderte deutsche Urlauber.

Der Rechtsmediziner arbeitet seit dieser Zeit bei Interpol, der weltweiten Polizeiorganisation mit knapp 200 Mitgliedsländern. Der Experte ist dort seit 2017 stellvertretender Vorsitzender der „Forensic Odontology Subgroup“ (Gruppe Forensische Zahnmedizin) der Katastrophenopfer-Identifizierungsgruppe, kurz DVI-Gruppe. Die englische Abkürzung steht für Disaster Victim Identification Group. Mitte 2019  ist er dazu in einem mehrwöchigen Verfahren durch 37 Interpolmitgliedsländer wiedergewählt worden.

Er soll außerdem ab 2021 Vorsitzender der Untergruppe Zahn­untersuchung werden. „Für mich ist das eine große Auszeichnung“, sagt der Familienvater von zwei erwachsenen Kindern. In diesem Monat ist der vielbeschäftigte Wissenschaftler sogar erneut Großvater geworden. Die zahnärztliche Forensik ist sein Fachgebiet und eine von vier Untergruppen der Katastrophenopfer-Identifizierungsgruppe bei Interpol. Die anderen drei Gruppen sind die der Rechtsmediziner, Molekular-Genetiker (DNA) und Polizei/Daktyloskopen (Fingerabdrücke). Lessig: „Wir alle kümmern uns darum, dass internationale Standards für die Identifikation von Katastrophenopfern eingehalten werden.“ Diese Standards müssen länderübergreifend und möglichst weltweit angewendet werden, damit beim Identifizieren die Daten von Opfern und Vermissten sicher zusammenpassen.

Ein Beispiel ist der Absturz der Air-France-Maschine vor der Küste von Brasilien vor zehn Jahren. Alle 228 Insassen aus 32 Nationen verloren dabei ihr Leben. Unter den Toten waren auch 28 Deutsche und sechs Schweizer.

„Wenn so viele Nationen beteiligt sind, muss es einheitliche Standards geben. Die Einsatzkräfte vor Ort sollten sich auf die Angaben der Heimatländer und natürlich auch umgekehrt wir uns auf die Daten von dort verlassen können“, so der Rechtsmediziner. Nichts sei schlimmer, als erst am Heimatort zu bemerken, dass am Ende ein Irrtum vorliegt. „So etwas darf in keinem Fall passieren“, sagt der Mediziner. Aus diesem Grund gehen die forensischen Ermittler auch mit der gesamten Bandbreite der Identifizierungsmöglichkeiten vor.

Oft herrschen dabei nicht ganz einfache Bedingungen, so wie beim letzten großen Erdbeben 2015 in Nepal. Zur Identifizierung der deutschen Opfer war Lessig dort direkt vor Ort im Einsatz. Er wird immer auch dann tätig, und das freiwillig, wenn das Bundeskriminalamt (BKA) oder das Auswärtige Amt die Identifizierungskommission des BKA (IDKO) zu Hilfe rufen. „Wir sollten die möglichen deutschen Opfer in der Botschaft der Hauptstadt Kath­mandu identifizieren“, sagt Lessig. Es waren damals etwa ein Dutzend Tote. Für die Arbeit der Experten wurde dafür eine Garage freigeräumt. Während in Deutschland Polizisten oder Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes das Vergleichsmaterial der Vermissten besorgten, sicherten Lessig und seine Kollegen die Spuren an den Toten, um einen sicheren Vergleich zu ermöglichen.

Die Ergebnisse der Untersuchungen halten die Experten in speziellen Toughbooks fest, das sind extrem robuste Laptops, die überall und in jedem Krisengebiet eingesetzt werden können. „Da hat die Technik in den vergangenen Jahren wirklich extreme Fortschritte gemacht. Unsere Arbeit wird das aber nicht ersetzen können“, so der Wissenschaftler. Notfalls greife er auch gern auf handschriftliche Ergebnisse zurück.

Rechtsmediziner war übrigens nie sein Traumberuf. Der gebürtige Sachse studierte nämlich Zahnmedizin im russischen Wolgograd und ließ sich nach Medizinstudium und seinem Abschluss zum Facharzt für gerichtliche Medizin an der Universität in Leipzig ausbilden. Später übernahm er in der Messestadt die stellvertretende Leitung der Rechtsmedizin bis er am 1. Oktober 2010 nach Halle wechselte und dort gemeinsam mit der Außenstelle in Magdeburg die Leitung übernahm.

Sein größter Einsatz in Sachsen-Anhalt war das Zug-unglück von Hordorf am 29. Januar 2011. Das Bundeskriminalamt bat ihn um Unterstützung. Ein Personenzug stieß in der Börde mit einem Güterzug zusammen. Es gab zehn Tote. Er kann sich noch genau erinnern: „Das lief damals sehr professionell ab. Zwei-Mann-Teams haben die Angaben zu den Toten dokumentiert und von den Familien der Vermissten die nötigen Zahnarztunterlagen über das Wochenende besorgt. Am Montagabend bin ich nach Magdeburg gefahren und in der Nacht waren wir fertig.“ Alle Vermissten konnten den Toten zugeordnet werden. Den Angehörigen konnte er damit Gewissheit geben.

Einer seiner letzten großen Einsätze des Identifizierungs-Teams waren die Untersuchungen nach dem Busunglück von Madeira im April dieses Jahres. Bei diesem starben 29 deutsche Staatsangehörige. Vor Ort musste der Wissenschaftler in diesem Fall aber nicht sein. „Meine Aufgabe war es, die Arbeit der speziell geschulten Zahnärzte zu koordinieren und die nötigen Daten auszutauschen“, sagt er.

Seine Experten-Hilfe bei Interpol ist übrigens ehrenamtlich. Rüdiger Lessig: „Meine Arbeit bei Interpol wäre so gar nicht möglich, wenn das Universitätsklinikum und die Medizinische Fakultät nicht voll dahinterstehen und mich dafür auch freistellen würden. Das ist keine Selbstverständlichkeit.“