Reformation Kunst im Knast

Im alten Gefängnis von Wittenberg trifft zum Reformationsjubiläum Gegenwartskunst auf das geistige „Modell“ Martin Luthers.

Von Grit Warnat 21.04.2017, 01:01

Wittenberg l Der chinesische Künstler und Dissident Ai Weiwei war schon im vergangenen Sommer in Wittenberg und hatte sich den zukünftigen Ort der Ausstellung angeschaut. Der Treppenaufgang im 1906 eröffneten einstigen Amtsgerichtsgefängnis, später als U-Haftanstalt, dann als Lager und Sitz des Grundbuchamtes genutzt, ist schmal. Auf den Etagen reiht sich Zelle an Zelle. Sie sind winzig. Der Putz blättert ab. Einfassungen von Neonröhren rosten. In einem dieser winzigen Löcher stehen zwei graue Betonklötze, ausgehöhlt ein Körper. Ai Weiwei hat sich selbst gegossen. „Es will uns sagen, dass, wenn der Körper gefangen ist, der Geist noch frei ist“, sagt Kunsthistorikerin Dan Xu vom Kuratorenteam. Bei seinem Besuch damals habe der Künstler geäußert, dieses Haus, diese Zellen würden ihn an seine eigene Verhaftung erinnern.

Ai Weiwei ist einer von namhaften Künstlern auf der langen Liste der Ausstellenden im einstigen Knast. Markus Lüpertz, Günther Uecker, Erwin Wurm, Alexander Kluge, Richard Jackson, Isa Genzken, Ólafur Elíasson. Fast 70 national und international Schaffende haben sich auf die Ausstellung und auf Luther und Positionen rund um die Reformation eingelassen. Viele Künstler würden ganz besonders auf diesen Ort reagieren. Mal keine Kunsthalle, mal keine Galerie, zudem freie Künstlergeister an einem ehemals sehr unfreien Ort. Hier über Freiheit nachzudenken, habe viele zu neuen Arbeiten inspiriert, sagt Dan Xu. Die Masse der Exponate ist für diesen außergewöhnlichen Ort neu entstanden.

Dass in einem Monat die Ausstellung eröffnet wird, ist Walter Smerling zu verdanken, dem Vorsitzenden der Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Bonn, der vor langer Zeit schon bei einem Treffen mit der Evangelischen Kirche sein Ansinnen einer künstlerischen Auseinandersetzung mit Luther vorgetragen hatte und auf große Zustimmung gestoßen war. Smerling organisiert seit Jahrzehnten mit großer Zielstrebigkeit Ausstellungen, er ist bestens vernetzt – wie auch das sechsköpfiges Kuratorenteam, darunter Susanne Klein von der Bundeskunsthalle Bonn und Kay Heymer, Leiter Moderne Kunst der Düsseldorfer Stiftung Museum Kunstpalast.

Ihnen ging es von Anfang an um den Reformator als Vordenker und Avantgardist seiner Zeit und die aktuelle Kunst, die Position bezieht zu gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit. Immer wieder wird der Besucher auf das Wort, den Buchdruck und die Verbreitung von Sprache treffen. Durch das triste Treppenhaus ziehen sich wie ein großes Fries alte chinesische Schriftzeichen, die von der kommunistischen Partei einst verboten worden waren. Auch Kuratorin Dan Xu kann sie nicht entziffern. „Sie stehen für eine Erinnerung an eine verlorene Kultur.“ In einem ehemaligen Aufenthaltsraum wird ein Roboter zum Bibel-Schreiber, eine Zelle ist voller Ritzungen. Alles Bezeichnungen für Gott. Und Xu Bing, chinesischer Literat und Konzeptkünstler, hat sich daran versucht, die Luther-Bibel mit Emoji-Zeichen zu übersetzen.

Die meisten Zellen sind bereits gestaltet, ein Großteil der Künstler war selbst vor Ort. Jonathan Meese zum Beispiel erst vor zwei Wochen. Die Zelle vom Enfant terrible, schillernd, provokativ, vom Nachrichtenmagazin „Spiegel“ einmal als „Meister der krawalligen Kunst“ bezeichnet, muss dem Besucher nicht erst beschrieben werden. Sie ist bestens sichtbar. Meeses Thesen für die Kunst, all die Wörter und Bilder in knalliger Farbigkeit, reichen bis unter die Decke und an die Zellentür. 95 sind es an der Zahl, so viele, wie einst Martin Luther an die Wittenberger Schlosskirche genagelt haben soll.

Noch sind die Handwerker in den Fluren am Wirken, die das Haus nach langem Leerstand erst instandgesetzt haben. Noch ist nicht jede Zelle zum kleinen Atelier geworden.

Doch der Rundgang einen Monat vor Beginn der Ausstellung gibt schon den Blick frei auf die sehr unterschiedlichen Handschriften der Künstler. Bilder und Zeichnungen, Videos und Installationen, Performances und Plastiken. Alles noch hinter verschlossenen Türen. Doch wer bei der Vorbeifahrt den Fuß vom Gaspedal nimmt und dem grauen Gebäude mit den vergitterten Fenstern schon einmal einen Blick gönnt, kann die Veränderung auch äußerlich erkennen. Ein Relief an der Außenmauer spielt an die Diskussionen um das Sandsteinrelief „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirche an. Und das Grundstück zur Straße hin wird zum kleinen blühenden Garten mit Pflanzen aus der Luther-Zeit. Wenn das Tor zum Gefängnis-Innenhof aufsteht, fällt der Blick auf Erwin Wurms roten „Boxhandschuh“. Versteckt hinter Büschen hingegen die in die Erde eingelassenen Steinplatten mit dem Bild von Edward Snowden. Es ist nur mit Drohnen aus der Luft erkennbar.