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Renteneinheit Gespaltene Gefühle im Osten

2020 soll die deutsche Einheit auch bei der Rente vollzogen werden. Doch nicht jeder im Osten profitiert.

Von Jens Schmidt 13.10.2016, 01:01

Magdeburg l Alle Berechnungen der Volksstimme basieren auf den aktuellen Rentenwerten und Löhnen sowie auf dem bislang vorliegenden Nahles-Konzept. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) schlägt für die deutsche Renteneinheit zwei Stufen vor – eine 2018, eine abschließende zwei Jahre später. Wir schauen auf den Stand 2020.

Männer beziehen im Osten derzeit durchschnittlich eine Altersrente von 1111 Euro netto. Nach dem Angleich wären es etwa 1180 Euro: ein Plus von 69 Euro also. Bei Frauen liegt die Durchschnittsrente bei 824 Euro: Hier käme im Monat ein Fünfziger drauf.

Generell gilt: Die Ost-Renten werden nach dem vollständigen Angleich um gut 6 Prozent steigen. Grund: Der Rentenwert Ost wird auf den Rentenwert West angehoben. Der West-Wert ist fortan der gesamtdeutsche Rentenwert.

Hintergrund: Wer in die Rentenkasse einzahlt, sammelt sein Berufsleben lang Rentenpunkte. Wer durchschnittlich verdient, bekommt im Jahr einen Rentenpunkt. Liegt der Verdienst zum Beispiel bei 80 Prozent des Durchschnitts, gibt es 0,8 Rentenpunkte im Jahr. Am Ende des Berufslebens werden alle gesammelten Punkte addiert und mit dem dann aktuellen Rentenwert multipliziert. Der Rentenwert liegt im Osten derzeit bei 28,66 Euro und im Westen bei 30,45 Euro.

Beispiel: Ein Angestellter im Westen hat 35 Rentenpunkte gesammelt. Er erhält dafür 1066 Euro Monatsrente (35 mal 30,45 €). Der Kollege im Osten bekommt für 35 Rentenpunkte nur 1003 Euro (35 mal 28,66€). Nach der Angleichung bekommen beide dasselbe.

Der Rentenwert richtet sich nach Bruttolöhnen und eingezahlten Rentenversicherungs-beiträgen. Streng genommen müsste der gesamtdeutsche Rentenwert eine Mischung aus dem West- und dem Ostwert sein – das wären etwa 30 Euro gewesen. Das hätte aber zu einem Rückgang der Westrenten und zu einem geringeren Plus für die Ostrentner geführt. Der Sachverständigenrat hatte deswegen komplexe Ausgleichsrechnungen vorgeschlagen. Die Politik will den einfacheren Weg gehen: Westwert gleich gesamtdeutscher Wert. Für die Ost-Rentner ist das gut. Das kostet aber auch zusätzliche Milliarden.

Ostdeutsche Löhne werden bisher bei der Rentenberechnung aufgewertet. Damit sollten historisch bedingte Gehaltsunterschiede ausgeglichen und flächendeckende Altersarmut im Osten verhindert werden. Auch 26 Jahre nach der Einheit erreichen die Ostlöhne im Mittel nur 87 Prozent des gesamtdeutschen Mittels. Oder anders gesagt: Der deutsche Durchschnittslohn liegt gut 1,14 Mal über dem Durchschnittslohn Ost.

Beispiel: Das gesamtdeutsche Durchschnittsbrutto liegt derzeit im Jahr bei etwa 36 267 Euro. Dafür bekommt ein Westdeutscher einen Rentenpunkt. Der ostdeutsche Durchschnittsverdiener hat 31 594 Euro. Für die Rentenberechnung werden daher alle Ostverdienste haarfein mit einem Faktor multipliziert – dieses Jahr mit 1,1479. Durch diese Hochwertung bekommt ein Durchschnittsverdiener im Osten auch einen Rentenpunkt.

Nach der Vereinheitlichung des Rentenrechts wird die Höherwertung wegfallen. Fahren dadurch alle ostdeutschen Arbeitnehmer schlechter? Teils, teils. Bei unseren Modellrechnungen haben wir unterstellt, dass die Ostlöhne auch in den kommenden Jahren unter dem gesamtdeutschen Mittel liegen. Verringert sich der Abstand, wirkt sich das für die künftigen Rentner im Osten positiv aus.

Ältere haben Vorteile. Grob gesagt: Wer mehr als die Hälfte seines Arbeitslebens in den Genuss der Höherwertung kam, hat Vorteile. Für die meisten gilt: Wer zum Zeitpunkt der Reform etwa 25 Jahre gearbeitet und eingezahlt hat, macht meist kein Minus oder kommt sogar besser weg. Entscheidender Grund: Alle gesammelten Rentenpunkte – auch die höhergewerteten – werden künftig mit dem gesamtdeutschen Rentenwert multipliziert, der ja deutlich höher liegt als der ostdeutsche.

Beispiel 1: Max Müller verdient immer durchschnittliches Ostgehalt, zahlt 45 Jahre in die Rentenkasse ein und geht mal abschlagsfrei in den Ruhestand.

Alte Rechnung: Nach dem bisherigen System bekäme er 45 Rentenpunkte. Das entspricht aus heutiger Sicht einer monatlichen Rente von rund 1290 Euro. (45 mal 28,66 € Rentenwert Ost)

Neue Rechnung: Kommt die Rentenreform, hatte Max Müller schon 25 Jahre eingezahlt und außerdem hat er noch 20 Jahre vor sich. Dann ergibt sich folgendes Bild:

  • 25 Jahre hochgewertetes Ost-Durchschnittsgehalt: ergibt 25 Rentenpunkte
  • 20 Jahre durchschnittliches Ostgehalt ohne Höherwertung: ergibt circa 17,4 Rentenpunkte statt 20 wie bisher. (Das Ostgehalt beträgt ja nur 87 Prozent vom deutschen Durchschnittsbrutto, daher gibt es entsprechend weniger Rentenpunkte.)
  • Zusammen sind das 42,4 Rentenpunkte multipliziert mit 30,45 Euro gesamtdeutschen Rentenwert – ergibt: 1291 Euro Monatsrente (brutto).

Fazit: kein Verlustgeschäft.

Beispiel 2: Hans Meyer kann schon nach 42 Arbeitsjahren abschlagsfrei in Rente. Auch er bezog immer ein ostdeutsches Durchschnittsgehalt.

Alte Rechnung: Damit käme er auf eine Monatsrente von 1204 Euro. (42 Rentenpunkte mal 28,66 € Rentenwert Ost).

Neue Rechnung: Hans Meyer hat zum Zeitpunkt des Rechtsangleichs 30 Jahre eingezahlt und noch 12 Jahre vor sich.

Dann sieht es wie folgt aus:

  •  30 Jahre hochgewertetes Ostgehalt: 30 Rentenpunkte
  • 12 Jahre durchschnittliches Ostgehalt ohne Höherwertung: 10,4 Rentenpunkte (statt 12 wie bisher)
  • Das ergäbe 1230 Euro Monatsrente. (40,4 Rentenpunkte mal 30,45 Euro gesamtdeutscher Rentenwert)

Fazit: positiv. Es gibt 26 Euro mehr. Lange Höherwertungs-Zeiten wirken sich günstig aus. Das gilt auch für Niedrigverdiener.

Beispiel 3: Christel Schulz liegt mit ihrem Bruttoverdienst immer nur bei 60 Prozent vom ostdeutschen Mittel (das sind aktuell 18 956 Euro im Jahr). Nach 42 Jahren will sie abschlagsfrei in den Ruhestand.

Alte Rechnung: Sie bekäme in jedem Jahr 0,6 Rentenpunkte. Nach 42 Jahren käme sie auf eine Monatsrente von 722 Euro.

Neue Rechnung: Beim Start der Renteneinheit hat sie bereits 30 Jahre eingezahlt und noch 12 Jahre vor sich.

  • 30 Jahre höhergewertetes Ostgehalt = 18 Rentenpunkte
  • 12 Jahre ohne Höherwertung = 6,3 Rentenpunkte.
  • Christel Schulz würde 740 Euro Monatsrente beziehen. (24,3 Rentenpunkte mal 30,45 Euro gesamtdeutschen Rentenwert)

Fazit: Auch für Niedrigverdiener gilt: Wer deutlich über die Hälfte seiner Arbeitszeit in der Höherwertungsphase war, hat nach der Reform keine Nachteile.

Anders sieht es bei Jüngeren in den ostdeutschen Ländern aus, die erst wenige Jahre den Vorteil aus der Höherwertung ziehen konnten.

Beispiel 1: Durchschnittsverdienerin Marina Meyer will mal nach 45 Jahren in den Ruhestand.

Alte Rechnung: Nach 45 Beitragsjahren kann sie mit einer Monatsrente von 1290 Euro rechnen.

Neue Rechnung: Beim Start des Rentenangleichs hat sie erst 10 Jahre eingezahlt und noch 35 Jahre vor sich. Daraus ergibt sich:

  • 10 Jahre hochgewertetes Ostgehalt: 10 Rentenpunkte
  • 35 Jahre durchschnittliches Ostgehalt ohne Höherwertung: 30,4 Rentenpunkte (statt 35 wie bisher)
  • Marina Meyer bekäme mal 1230 Euro Monatsrente (44,4 Punkte mal 30,45€ Rentenwert).

Fazit: negativ. Es gäbe 60 Euro weniger.

Beispiel 2: Niedrigverdiener Maik Müller muss stets mit 60 Prozent vom ostdeutschen Mittel auskommen. Nach 42 Jahren will er abschlagsfrei in Rente.

Alte Rechnung: Nach bisheriger Regelung bekäme er 722 Euro Monatsrente.

Neue Rechnung: Beim Start des Rentenangleichs hat er erst 10 Jahre eingezahlt und noch 32 Jahre vor sich.

  • 10 Jahre hochgewertet: 6 Rentenpunkte
  • 32 Jahre nicht hochgewertet: 16,7 Rentenpunkte
  • Dafür bekäme er 691 Euro Rente.

Fazit: Das sind 31 Euro Verlust – also gut vier Prozent weniger jeden Monat.

West-Rentenniveau für alle Deutschen – das finden alle gut. Dass aber zugleich die Ostlöhne nicht mehr aufgewertet werden, ist arg umstritten. Nicht allein die Linke lehnt das ab – auch bis weit in die politische Mitte gibt es Widerstand. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) etwa hält es für falsch, wenn der Höherwertungsfaktor „schlagartig und komplett“ entfallen soll. „Dies würde für weite Teile der Berufstätigen eine spürbare Kürzung der zu erwartenden Rente bedeuten“, schreibt er in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Er verweist auf die geringe Tarifbindung in der ostdeutschen Wirtschaft. „Es gibt Bereiche, da liegen die Löhne und Gehälter effektiv um 30 Prozent oder mehr unter Westniveau. In Sachsen-Anhalt sind knapp 60 Prozent der Beschäftigten in solchen Branchen tätig.“ Haseloff plädiert für ein allmähliches Abschmelzen der Höherwertung.

Das sieht Wolfgang Kohl, Chef der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland, anders. „Wenn der ostdeutsche Rentenwert auf den Westwert angehoben wird, dann muss die Hochwertung der Entgelte entfallen.“ Kohl verweist in diesem Zusammenhang auf zwei Aspekte:

Erstens: Im Westen gibt es ebenfalls deutliche regionale Lohn-Unterschiede. So liegen die Durchschnittsgehälter in Schleswig-Holstein etwa 20 Prozent unter denen in Bayern oder Hessen. Ein Arbeiter aus Lübeck oder Kiel bekommt deswegen aber keinen Ausgleich für seine Rente.

Zweitens: Der öffentliche Dienst und einige Unternehmen zahlen im Osten bereits Gehälter auf Westniveau. Im Osten werden aber pauschal alle Löhne hochgewertet – davon profitieren dann auch die Gutverdiener. So erhält zum Beispiel ein Ostdeutscher mit einem Jahresbrutto von 40 000 Euro mehr Rentenpunkte als ein Westdeutscher mit demselben Gehalt.

Wann wird die Renteneinheit Gesetz? „Der Entwurf befindet sich nach wie vor in der regierungsinternen Abstimmung“, so das Bundesarbeitsministerium.