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Restaurierung Die Bücher-Retter des Gleimhauses

Bücher vor der Zerstörung zu retten, ist das Ziel des Förderkreises des Gleimhauses Halberstadt. Und mehr als nur ein Lippenbekenntnis.

Von Klaus-Peter Voigt 30.03.2019, 23:01

Halberstadt l Etwa 11 mal 19 Zentimeter misst der hellblaue Bucheinband. 128 Seiten hat „D. Martin Luthers kleiner Katechismus“. Er erschien 1797 in der Rengerschen Buchhandlung in Halle. „Uns tat es im Herzen weh, als wir den schlechten Zustand des Bändchens zum ersten Mal sahen“, bringt es Hans Joachim Nehrkorn auf den Punkt.

Fliegende Blätter, Beschädigungen im Falzbereich und eine desolate Heftung sind nur einige der Mängel, die bis zum Reformationstag dieses Jahres der Vergangenheit angehören sollen. Die Restaurierung wurde bereits vorbereitet, für die der engagierte Buchliebhaber mit seiner Frau Editha die Patenschaft übernommen hat. Beide gehören seit rund 15 Jahren dem Förderkreis des Halberstädter Gleimhauses an. Von Lippenbekenntnissen halten sie nichts und nur Besuch von Veranstaltungen wäre ihnen zu wenig. Schon als Schüler machten die jungen Leute Bekanntschaft mit dem zweitältesten Literaturmuseum Deutschlands. „Diese Besuche mit der ganzen Klasse haben uns keinesfalls geschadet“, sagt Editha Nehrkorn.

„Die 2006 gestartete Buchpatenaktion trägt reiche Früchte“, erläutert Gleimhaus-Direktorin Ute Pott zufrieden. Bereits 73 Titel konnten durch die Hilfe privater Sponsoren restauriert werden. Fast 37 000 Euro kamen dafür bislang zusammen. Das mache Mut, das Projekt fortzusetzen, denn ungleich mehr Bücher brauchten eine fachgerechte Aufarbeitung. Die Kosten lägen zwischen 200 und 2000 Euro je Buch. Unter den Paten gibt es zahlreiche Wiederholungstäter, man sammelt zudem auf Familienfeiern oder bei Firmenjubiläen, um dem Museum helfen zu können.

Ein Herr aus dem benachbarten Niedersachsen schickt regelmäßig seinen Obolus, um die Restaurierung eines weiteren Buches ermöglichen zu können. „Und wir freuen uns auch über kleinste Summen, die wir für so genannte Teilpatenschaften einsetzen und die sich im Laufe der Zeit für Kosten für die Aufarbeitung eines Titels ergeben“, erläutert Ute Pott.

In erster Linie sind es Schäden aus dem Zweiten Weltkrieg die der Bibliothek des Gleimhauses zu schaffen machen. Ende der 1990er Jahre kamen an die 800 bis dahin als vermisst geltenden Bücher aus dem 16. bis 18. Jahrhundert zurück. Alle waren nach Kriegsende von der Roten Armee als Beutekunst in die Sowjetunion und von dort in einzelne Landesteile gebracht worden. Armenien und Georgien trennten sich wieder davon. „Wir sortierten mehrere Tage aus den zahllosen Kisten einen Teil unserer Stücke aus“, erinnert sich Bibliotheksleiterin Annegret Loose. Die eindeutige Signatur erleichterte die Arbeit.

Es machte „riesigen Spaß“, die verloren geglaubten Drucke wieder in den Händen zu halten. Ein Teil konnte nach einer Reinigung relativ schnell ins Bibliotheksregal gestellt werden. Feuchtigkeitseinflüsse und mechanische Schäden überwogen bei den problematischen Exemplaren, die nun in kleinen Schritten eine Aufarbeitung erfahren.

Manchmal erleben die Mitarbeiter des Gleimhauses auch Überraschungen. Anfang des Jahres traf mit der Post ein Paket in dem Haus nahe des Domplatzes ein. Der Inhalt: zwei als verschollen geglaubte Bücher. Auf einem Zettel hatte der Absender mit „ein reuiger Sünder“ unterschrieben. Das Geheimnis um die Rückgabe konnte nicht gelöst werden, lediglich der Absendeort stehe fest und der liegt in der Magdeburger Börde.

Drei B prägen das Gleimhaus. Neben Briefen und Bildern, rund 12 000 von ihnen liegen im Depot, sind das eben auch die Bücher. Die Bibliothek war bis zu Gleims Tod auf 12 000 Bände angewachsen, von denen auf seinen Wunsch hin annähernd 4000 Bände verkauft wurden. Trotz der immensen Verluste im Zweiten Weltkrieg, nahezu 1500 Exemplare gingen verloren, wuchs der Bestand inzwischen durch Ankäufe auf etwa 12 500. Damit zählt die Gleimbibliothek zu den größten erhaltenen bürgerlichen Büchersammlungen des 18. Jahrhunderts und damit der Zeit der Aufklärung, berichtet Ute Pott. In ihr finden sich zahlreiche Drucke von hohem Wert.

Vielfach seien es beispielsweise handschriftliche Eintragungen ihrer Verfasser oder Besitzer, die die Einzigartigkeit dieser Bände unterstreichen. Bei der Restaurierung sei man vor Überraschungen nicht gefeit, berichtet Annegret Loose. Zum Beweis dafür öffnet sie eine Mappe. In der liegt das Blatt einer mittelalterlichen Handschrift auf Pergament. Das Fragment kam bei der Restaurierung eines Drucks aus dem 17. Jahrhundert regelrecht ans Tageslicht. Damals war es durchaus üblich, nicht mehr benötigte Schriften beispielsweise als Einbandbezug weiter zu verwenden.

Der in Spanien lebende Historiker Matthias Tischler beschäftigte sich mit dem aufgefundenen und geretteten Pergament. Er stellte fest, dass weitere aus einem einst zusammenhängenden Dokument in anderen Büchern der Gleimschen Bibliothek verarbeitet sind. Es handelt sich dabei um Teile einer wertvollen Weltchronik des Benediktinermönchs Frutolf von Michelsberg aus dem 12. Jahrhundert.

Mit einem Lächeln im Gesicht öffnet die Bibliotheksleiterin einen riesigen Himmelatlas „Harmonia macrocosmica seu Atlas universalis et novus“ des Mathematikers und Astronomen Andreas Cellarius (um 1596/1665). Auch dessen heute guter Zustand geht auf eine Buchpatenschaft zurück. Den Weltbildern von Ptolemäus, Copernicus und Brahe sind in ihm insgesamt 21 Kupferstiche gewidmet. Dem Betrachter wird auf diese Weise die Entwicklung des astronomischen Weltbildes eindrucksvoll dargestellt, erzählt Annegret Loose.

„Unsere Buchpatenschaften wären ganz nach dem Geschmack Wilhelm Ludwig Gleims“, stellt Ute Pott fest. Schließlich war Halberstadt im 18. Jahrhundert so etwas wie ein „Umschlagplatz literarischer Kommunikation“. Gleim (1719-1803), dessen Geburtstag sich am 2. April zum 300. Mal jährt, nennt die Wissenschaftlerin einen „Netzwerkadministrator“ für die Literatur seiner Zeit. Gleim korrespondierte mit über 400 Persönlichkeiten. Darunter waren fast alle deutschsprachigen Dichter der Epoche. Er galt als Förderer der Literatur, erwarb sich seinen Ruf Mentor und Mäzen gleichermaßen. Wer bei ihm einen Fuß in der Tür hatte, konnte Kontakte knüpfen. Dazu gehören unter anderem Gottfried August Bürger, Johann Gottfried Herder, Gotthold Ephraim Lessing und Johann Heinrich Pestalozzi.

„Vater Gleim” nannte man den Halberstädter, der selbst Verse zu Papier brachte. Im heutigen Museumsgebäude in unmittelbarer Nähe des Domes wirkte er ab 1747 bis zu seinem Tod 1803. Die Schriftstellerei und das Dichten waren eine brotlose Kunst, von dem praktisch niemand wirklich seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Weder reichten die Honorare zum Leben, noch wurde für Raubdrucke, die damals überreichlich kursierten, an den Autor etwas bezahlt.

Gleim wollte helfen, unterstützte immer wieder die hoffnungsvollen Autoren mit Geld oder bezahlte den Druck ihrer Werke. Lediglich zu Johann Wolfgang von Goethe gab es keine echten Kontakte. Zwischen beiden stimmte im heutigen Sinne „die Chemie nicht”. Ganz anders die Verbindung zu Friedrich Schiller. Der hatte 1784 Gleim um seine Freundschaft gebeten. In einem bis heute erhaltenen Brief fragt er zudem, ob dieser seinem Zeitschriftenprojekt die „Rheinische Thalia” in seinen Korrespondenzen und Zirkeln gedenken könne.