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Schicksal Mit halbem Herzen voll dabei

Lara wurde mit einem halben Herzen geboren und wirbelte damit das Leben von Mama Steffi Sänger aus Magdeburg mächtig durcheinander.

Von Janette Beck 05.05.2019, 01:01

Magdeburg l Mit einem halben Herzen auf die Welt zu kommen, ist eine Laune der Natur – aber alles andere als witzig. Das wissen die rund 4000 Kinder und deren Familien in Deutschland, die mit dem sogenannten Einkammerherz und dem damit verbundenen chronischen Sauerstoffmangel leben, nur zu gut. Die Ursachen des Defektes sind noch weitestgehend unerforscht. Steffi Sänger (49) und ihre Tochter Lara (14) hat der schwere Herzfehler zu Verbündeten im Kampf um ein lebenswertes Leben gemacht.

Alles andere als halbherzig versuchen die Magdeburgerinnen das Schicksal zu meistern. Jede auf ihre Weise: Die Tochter tut dies, indem sie trotz acht Operationen und den Folgen eines schweren Schlaganfalls versucht, „so normal wie möglich“ ihr Leben zu leben. Und das ist im Teenager-Alter auch ohne Berücksichtigung des Handicaps einer nur 93-prozentigen Sauerstoffsättigung im Alltag sowie 87 Prozent unter Belastung nicht leicht. Die Mutter sieht ihre Bestimmung darin, sich unermüdlich für die Herzforschung einzusetzen, für Laras Leben und das Leben aller Kinder mit halbem Herzen. Dabei engagiert sie sich als Vorsitzende des Vereins „Fontanherzen“ für betroffene Familien und schreibt in Ausmalbüchern verpackte Kurzgeschichten für Kinder.

„Leo Fontano“, „Karline Schleckerbein“ und „Rufus Schwefel“ wurden zum Leben erweckt, als die Angst um das schwerkranke Kind der Mutter den Atem nahm. Sie „fast umbrachte“. Als sie immer wieder aus Alpträumen gerissen in ein tiefes Loch zu fallen drohte und das Schreiben der Strohhalm war, der sie vor dem Untergang bewahrte. Sich Geschichten auszudenken und zu Papier zu bringen habe ihr geholfen, Gefühle und Gedanken zu ordnen, Emotionen in etwas Sinnvolles zu kanalisieren. „Und vor allem, loszulassen“, gesteht Steffi Sänger offen: „Ich habe gelernt, Ängste zuzulassen und mir einzugestehen, dass ich meine Tochter nicht vor allem, was das besondere Herz ihr beschert, beschützen kann. So sehr ich das auch will, ich bin keine Superheldin mit magischen Kräften. Einiges liegt eben nicht in unseren eigenen Händen.“

Auch wenn das bedeutet, ein Leben lang zu kämpfen. Und das müssen herzkranke Kinder vom ersten Atemzug an. Und jene wie Lara, die vom schlimmsten Herzfehler, den es gibt, auch noch die schlimmste Form hat - das Hypoplastische Linksherzsyndrom – trifft es umso härter. Das fing bereits mit der Geburt im Quedlinburger Krankenhaus an: Wegen abfallender Herztöne musste ein Notkaiserschnitt gemacht werden. Lara kam fünf Wochen zu früh auf die Welt. Mit 1980 Gramm. Schnell war klar: Irgendwas stimmt nicht mit der Kleinen ...

Mit dem Rettungswagen ging es in die Uniklinik nach Halle. Bei Professor Dr. Ralph Grabitz war Lara in den besten Händen. Der Kinderarzt und Spezialist für pädiatrische Kardiologie, erkannte den in der Schwangerschaft unentdeckt gebliebenen Herzfehler sofort. Das Mädchen wurde nach Kiel in die Kinderherzklinik geflogen. Mit nur einer voll funktionstüchtigen Herzkammer geboren, bei unter 2000 Gramm, hatte Lara aber nur eine geringe Lebens-Chance. „Die Diagnose riss mir den Boden unter den Füßen weg. Ich war traumatisiert, konnte keinen klaren Gedanken fassen“, erinnert sich die Mutter. Die bis dahin erlebte „völlige Unbeschwertheit“ sollte nie mehr in die Familie zurückkehren. Dennoch musste die schwerste Entscheidung ihres Lebens getroffen werden: „Die Ärzte sagten, es gäbe drei Alternativen: Wir können der Natur ihren Lauf lassen – das bedeutet, Lara würde sterben, auf eine Herztransplantation warten – möglicherweise bis in alle Ewigkeit, oder aber, wir könnten es mit einer Operation versuchen.“

Obwohl die Lütte mit 1980 Gramm viel zu leicht und ihr Herz zu klein war (normal haben Babys ab 3000 Gramm eine gute Überlebenschance), wurde die Fontan-OP in Angriff genommen: „Lara sollte die Chance bekommen, zu leben. Und ohne den chirurgischen Eingriff hätte sie die nicht gehabt“, begründet ihre Mutter rückblickend die Entscheidung und verweist auf die mutmachenden Erfolge. Die Überlebenschancen nach einer Fontan-OP sind gestiegen. Rund 5000 Menschen in Deutschland leben mit einem Einkammerherz. Die Ältesten sind um die 50, die meisten in Laras Alter. Und die ersten haben ihr Studium abgeschlossen. Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass viele Kinder mit diesem schweren Herzfehler aufgrund der Pränatalmedizin und Abbruchmöglichkeit ohne dazugehörige Beratung in den Herzkliniken gar nicht erst geboren werden, so Sänger: „Zumal bei der Diagnose auch ein Spätabbruch der Schwangerschaft möglich ist.“

Um den Fontan-Kreislauf (benannt nach dem Entwickler François Fontan) zu konstruieren, sind drei Operationen nötig. Normalerweise. Doch Lara benötigte aufgrund ihres geringen Gewichts und einiger Komplikationen, darunter auch eine Blutvergiftung, fünf Eingriffe. Ein halbes Jahr hing ihr Leben am seidenen Faden. „Wir lebten den Moment, nur von Tag zu Tag, und immer mit der begründeten Angst im Nacken, sie könnte es nicht schaffen.“ Doch die Kleine ist eine Kämpferin. Nach ihrer vierten OP – da war sie fünf Monate alt – konnte sie erstmals nach Hause.

Um als Fontan-Patientin noch oft ins Krankenhaus zurück zu müssen. Am tiefsten eingebrannt haben sich die Ereignisse infolge der fünften OP mit offenem Brustkorb. Der Fontan-Kreislauf sollte endgültig geschlossen und eigentlich alles gut werden. Doch die Zweijährige, die sich bis dahin trotz aller Handicaps körperlich und geistig relativ normal entwickelt hatte, erlitt drei Tage nach der OP einen akuten Schlaganfall. Ein Blutgerinnsel an der Operationswunde hatte sich gelöst. „Plötzlich hing ihr linker Mundwinkel, beim Sitzen fiel sie einfach um. Die rechte Körperseite war gelähmt. Es war fürchterlich. Ich bin fast gestorben, warf mir vor, sie nicht geschützt zu haben.“

Auch die Tochter sei völlig verzweifelt gewesen, weil nichts mehr war wie vorher. Aufgrund der rechtsseitigen Lähmung musste sie alles neu lernen: Essen, Trinken, Sprechen, Sitzen, Laufen, Malen, Singen. Am meisten machte Lara zu schaffen, dass sie wieder eine Windel brauchte, erinnert sich die Mutter. Die gelernte Sparkassenkauffrau blieb ein halbes Jahr zu Hause. Sie wachte Tag und Nacht am Bett: „Ich habe nur noch funktioniert. Das war auch die Zeit, als ich anfing, heimlich nachts Geschichten zu schreiben.“

Die erhielten in all den Jahren danach immer wieder neuen Stoff. Auch, weil das Mädchen temperamentvoll das tun wollte, was die anderen Kinder auch machen. „Lara hat alles mitgenommen, was ging – in jeder Beziehung“, nimmt es Steffi Sänger heute mit Humor, was ihr zeitweise fast den Verstand raubte und an ihre Grenzen brachte: Armbrüche, Affekt-Schreikrämpfe mit kleinen Herzstillständen, Herzrhythmusstörungen, die den Einsatz eines Schrittmachers nötig machten, Leberprobleme, Reizhusten-Attacken, bei denen das Kind zu ersticken drohte …

Doch jedes bisschen Lebensqualität musste hart erkämpft werden. Wenn die Kraft zu schwinden drohte, auch weil die Familie zusehends auseinanderbrach, spendete Lara Trost: „Dann hat sie mich gedrückt und gesagt: Mama, nicht traurig sein. Du bist nicht alleine, ich bin doch da.“

Wenn die Tochter sich so tapfer der Herausforderung stellen kann, dann kann ich das auch, sagte sich die Mutter irgendwann. „Ich begann aus meinem Schneckenhaus herauszukommen und dem Ganzen einen Sinn zu geben, indem ich mich für andere Betroffene einsetzte“, so die Magdeburgerin, die eine Unterschriftensammlung zur Verbesserung des Schwerbehindertenrechts initiierte, 2012 den Verein Fontanherzen gründete, sich für die Erforschung von Herzkrankheiten und den Einsatz neuartiger Behandlungsmethoden stark macht, für Vernetzung sorgte und immer mehr Experten und Unterstützer mit ins Boot holte. Für ihr Engagement wurde sie im Herbst 2018 mit der Bundesverdienstmedaille geehrt.

Doch der Kampf geht weiter: Für Lara, aber auch für Steffi Sänger. Am Dienstag steht mit der Veranstaltung in der Johanniskirche ein besonderer Termin an (siehe Infokasten). „Ein Traum wäre es, irgendwann nicht mehr erklären zu müssen, was es für die Kinder bedeutet, ein halbes Herz zu haben.“ Ziel sei es, anderen Betroffenen Hoffnung zu machen und zu zeigen, dass das Leben auch mit halbem Herzen schön sein kann. Und was wünscht sie sich persönlich? „Jeder Tag, fern vom Krankenhaus, ist für uns alle ein Geschenk.“