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Schlosskirche Verstörende Preußen-Schönheit

Dankbar haben die Protestanten die Eröffnung der Wittenberger Schlosskirche gefeiert. Doch nicht alle sind zufrieden.

Von Hagen Eichler 04.10.2016, 01:01

Wittenberg l Wo steckt er, der Störenfried? Blicke irren durch die Bankreihen in der vollbesetzten Schlosskirche. Gleich beginnt der Festgottesdienst. Wo zeigt sich der markante Kopf von Friedrich Schorlemmer? Irgendwo muss er ja sitzen, Wittenbergs Ehrenbürger. Der Theologe, Held der friedlichen Revolution und seit wenigen Tagen auch: der Mann, der dieses Gotteshaus „kitschig“ genannt hat. „Furchtbar“ sei das Ergebnis der Sanierung, schimpfte er in der Süddeutschen Zeitung, eine „Restauration des Wilhelminismus“.

Doch Schorlemmer ist nicht zu sehen. Mildes Licht fällt durch die bunten Glasfenster und von den riesigen Radleuchtern. Überstrahlt wird es von Dutzenden Scheinwerfern, die der MDR auf der Empore verteilt hat. Auf den vorderen Bänken warten die geladenen Gäste, hinten die Wittenberger, von denen sich einige schon drei Stunden zuvor angestellt hatten. Einen hervorragenden Blick auf den Altar hat in der vierten Reihe die Verlegerin Friede Springer, ebenso wie auf der anderen Seite des Gangs der Lebensmittel-Industrielle August Oetger.

Vom Altartisch herab hängt ein dunkelroter großer Vorhang, vorerst noch verdeckt durch ein halbtransparentes Tuch. Es ist das Geschenk der Königin, auf die hier alle warten: Margrethe II. von Dänemark.

Ist die kunstbegabte Monarchin nach Wittenberg gereist, um einen kitschigen Preußentempel einzuweihen? Darüber mag so mancher der kirchlichen Würdenträger gerade nachdenken, als die erwartete Königin im mintfarbenen Kostüm durch die Thesentür tritt, Bundespräsident Joachim Gauck neben sich. Geleitet werden beide von EKD-Ratspräsident Heinrich Bedford-Strohm, der heute Gastgeber ist, und von Reiner Haseloff, der sich als Wittenberger und Ministerpräsident mindestens ebenso sehr als Gastgeber fühlt.

Die Orgel braust los, „Wir pflügen und wir streuen“ von Matthias Claudius, es ist schließlich Erntedankfest. Nicht alle singen mit. Für den Fraktionschef der Linken im Magdeburger Landtag etwa, Swen Knöchel, ist die Kirche höchst ungewohntes Terrain. Doch das fällt kaum auf, es ist ein heiterer, beschwingter Sonntag. Vor dem Altar steht nun EKD-Ratspräsident Bedford-Strohm und würdigt die Kirche Martin Luthers.

„Wir wollen den Geist der Freiheit in uns wirken lassen, der mit diesem Ort so verbunden ist“, sagt Bedford-Strohm. Eine schöne Gelegenheit, nach einem anderen Kopf zu suchen, nach dem katholischen Bischof Gerhard Feige, in dessen Diözese Wittenberg liegt und der im Sinne ökumenischer Brüderlichkeit heute der richtige Gast wäre.

Man weiß, dass Feige die Zusammenarbeit der Kirchen will. Man weiß aber auch, dass ihm die Selbstdarstellung der Protestanten als „Kirche der Freiheit“ gehörig auf die Nerven geht. Und siehe da: Nicht nur Schorlemmer, auch der katholische Bischof fehlt an diesem Tag.

Gekommen sind viele Dänen. In den Bänken sitzen Pastoren mit blütenweißen steifen Halskrausen, von der Empore herab schwebt der kristallklare Gesang des Knabenchors Haderslev. Die Anwesenheit der Skandinavier erinnert daran, dass Luther und selbst die Schlosskirche Wittenberg nicht allein den Deutschen gehören.

Apropos: Wem gehört denn die Kirche – zumindest im rechtlichen Sinn? Eigentlich sollte sie an diesem Erntedanktag 2016 aus der Hand des Landes in das Eigentum der EKD übergehen. So hatte es der damalige Ministerpräsident Wolfgang Böhmer, er ist heute übrigens gekommen, mit der Kirche schon 2009 verabredet. Es wäre das erste Mal, dass Sachsen-Anhalt eine Kirche abgibt. Doch die Eigentumsübertragung hakt. Noch sind die juristischen Details nicht unterschriftsreif – eine Folge der vielen Bauverzögerungen am benachbarten Schloss.

Unterdessen brilliert Kirchenpräsident Christian Schad auf der Kanzel in der seltenen Kunst der kurzen Predigt. Aus gutem Grund dankt er nicht nur Gott, sondern auch den Steuerzahlern des Landes Sachsen-Anhalt. Rund acht Millionen Euro hat die Sanierung gekostet, ein erheblicher Teil davon aus der Landeskasse.

Man wüsste jetzt gern, wie darüber ein schmaler grauhaariger Mann denkt, der in einer vorderen Reihe Platz genommen hat. Es ist der AfD-Landtagsabgeordnete Gottfried Backhaus. Seine Partei und die evangelische Kirche sind einander in herzlicher Abneigung verbunden. Erst vor drei Tagen hat die AfD gefordert, alle Zahlungen an die Kirchen vollständig abzuwickeln. Die Einladung zur glanzvollen Eröffnung der Schlosskirche jedenfalls hat Backhaus gern angenommen. Auch für seine Frau hat er einen Platz organisiert.

Mit dem „Amen“ aus Händels „Messias“ klingt der Gottesdienst aus, es ist Zeit für die Grußworte. Zumindest beim Bundespräsidenten ist an diesem Tag allerdings nicht recht zu trennen, ob das Staatsoberhaupt spricht oder der Pastor im Ruhestand.

Gauck zitiert in sonorem Mecklenburgisch ein evangelisches Kirchenlied und erklärt, warum es nötig ist, für Ernte und den Erfolg menschlicher Arbeit zu danken. In den hinteren Reihen werden Digitalkameras gereckt. Bald zeigt sich indes, dass ein anderes Staatsoberhaupt weitaus mehr Publikum gezogen hat: Als die Königin zum Pult geht, um ihre Stickarbeit am Altartuch zu erläutern, erheben sich viele, viele Arme mit Kameras.

Margrethe spricht ein wunderbar nordisches Deutsch, der Name des kantigen Reformators klingt bei ihr ganz zart: „Luuther“. Es sei ihr eine große Freude gewesen, zum Schmuck der Kirche beizutragen, sagt sie, und dann erzählt sie von ihren königlichen Vorgängern im 16. Jahrhundert und deren engen Beziehungen nach Wittenberg. Es ist 11.30 Uhr, als die Ehrengäste zurück auf den Schlossplatz treten. Draußen warten hinter der Polizeiabsperrung Schaulustige, sie jubeln und winken der Königin zu.

Mit der dänischen Flagge in der Hand hat sich auch Claudia Appel postiert. Die Leipzigerin hat einst ein Schuljahr in Dänemark verbracht und ist seither ein Fan. „Ein kleines Land, das für seine Sprache und seine Eigenständigkeit kämpft“, sagt sie. Auch die Königin hat es ihr angetan. „Die macht ihr Ding. Sie hat als Künstlerin noch einen Beruf neben dem, was ihr das Geburtslotto eingebracht hat.“

Eine Stunde später gibt es eine weitere Gelegenheit, der kunstbeflissenen Monarchin zuzuwinken. Sieben weißgekleidete Polizisten auf Motorrädern eskortieren Margrethe zum Luthergarten. Einen Baum soll sie pflanzen – so zumindest lautet der Programmpunkt. Als die 76-Jährige unter den Augen von 200 Zuschauern zum Spaten greift, ist der Baum natürlich längst in der Erde, sie muss lediglich einige symbolische Schippen Erde beisteuern. Sie tut es mit Anmut, die Feder auf ihrem Hütchen wippt, und Ministerpräsident Haseloff geht ihr zur Hand, als es ihr am Ende schwerfällt, den Spaten in die Erde zu rammen.

„Lasst uns singen“, sagt der Pastor, der die Zeremonie leitet, ein Luther-Lied natürlich, „Ein feste Burg ist unser Gott.“ Um dem Publikum entgegenzukommen, schlägt er vor, jeder möge das Lied so singen, wie er wolle - auf Deutsch, Dänisch oder Englisch. Es ist eine Geste der Weltoffenheit. Sie führt allerdings zu einem hübschen Durcheinander der Sprachen. Schön klingt das nicht. Die meist Luther-unkundigen und daher nicht singenden Zaungäste hören staunend zu.

Während die Königin davonbraust, bleibt Zeit für eine letzte kleine Spurensuche. Wie konnte ein Wittenberger Großereignis ohne den Wittenberger Groß-Denker Schorlemmer auskommen? Eine Anfrage also bei der EKD - und ein verblüffendes Ergebnis, das Schorlemmers Attacke auf die „Kitsch-Kirche“ in ganz anderem Licht erscheinen lässt: Der nach Luther bekannteste Wittenberger Theologe war nicht persönlich geladen.

Um die Wiedereröffnung seiner Kirche erleben zu können, hätte sich Schorlemmer in die Schlange einreihen müssen. Am besten morgens um sieben, wie man von erfolgreichen Schlange-Stehern hört – da gab es ganz gute Chancen auf einen Sitzplatz.