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Schülerrichter Die zweite Chance

Bereits 350 Fälle wurden von größtenteils minderjährigen Schülerrichtern im Landkreis Harz verhandelt.

03.05.2017, 23:01

Quedlinburg/Halberstadt l In einem Geschäft eine Kleinigkeit geklaut, einen Lehrer beschimpft, jemanden verprügelt oder ohne Führerschein mit dem Auto unterwegs. Eine falsche Entscheidung und schon landen auch Jugendliche vor Polizei und Staatsanwaltschaft.

Oder in einem kleineren Raum, ähnlich einem Gericht, gegenüber von drei bis vier Schülern. Denn im Landkreis Harz haben Ersttäter die Chance, einem Prozess vor dem Jugendgericht zu entgehen, solange sie unter 18 Jahren sind. Dort gibt es seit 2007 das Projekt „Junge Richter ohne Robe mit viel Herz“.

„Die Schülerrichter selbst ermitteln nicht und können nur in Anspruch genommen werden, wenn die Täter geständig sind“, erklärt Evelyn Zinke vom Anti-Gewalt-Zentrum Harz, dem Träger des Projektes. Hat die Polizei ermittelt und den Vorgang an die Staatsanwaltschaft weitergegeben, kann diese entscheiden ob der Fall etwas für das „Projekt Schüler- gremium“ (PSG) ist. Ist das der Fall, werden die PSG-Projektleitung und die Jugendgerichtshilfe informiert. Daraufhin kann das PSG auf die straffälligen Jugendlichen zugehen und diese zum Sitzungsgespräch laden.

Anna, Lena, Sophia und Vincent (alle 15 Jahre) sind erst seit kurzem dabei und verhandeln heute ihren ersten Fall. Um welche Tat es geht, dürfen sie nicht verraten, für sie gilt die Schweigepflicht. Nach einer guten Dreiviertelstunde sind die vier zu einem Urteil gekommen und sind sichtlich erleichtert.

„Ich war vorher schon ziemlich aufgeregt“, gesteht Anna im Anschluss. Damit es den Vieren an diesem Verhandlungstag nicht zu viel wird, sitzt mit der 21-jährigen Josefine eine erfahrene Schülerrichterin im Hintergrund. „Ich beobachte heute nur, im Notfall hätte ich eingegriffen“, sagt sie.

Der Notfall ist nicht eingetreten, alles lief friedlich, so wie meistens im Schülergremium. „In meiner ganzen Zeit musste ich nur zweimal eingreifen und den Tätern klarmachen, was passiert, wenn sie nicht kooperieren“, erzählt Projektleiterin Evelyn Zinke. Denn ein Projektleiter sitzt zusätzlich mit im Raum. Den Job hat heute Viktoria Hudy übernommen. „Wir halten uns im Hintergrund und beobachten idealerweise nur“, sagt Hudy.

Sonst würde das Hauptziel des Schülergremiums verfehlt: Ein Ort, an dem Jugendlichen sich öffnen können. „Mit Gleichaltrigen spricht man eher über seine Probleme als mit Erwachsenen oder Eltern“, berichtet Senior-Schülerrichterin Josefine. Letztere sollen möglichst auch nicht in den „Gerichtssaal“ kommen. „Verbieten dürfen wir es nicht, aber wer die Eltern im Rücken sitzen hat, redet einfach nicht so frei“, meint Evelyn Zinke. Wer vor das Gremium tritt, wird von drei bis vier Schülern empfangen. „Hast du gut hergefunden?“, „Wie fühlst du dich heute?“, „Was sind deine Hobbys?“, das Gespräch im Schülergremium könnte genauso auch auf dem Schulhof oder in der Cafeteria stattfinden. Erst danach wird über die eigentliche Tat gesprochen.

Durch den Aufbau der persönlichen Ebene sollen die jugendlichen Straftäter sich sicherer fühlen. „Das ist vor allem bei schüchternen Tätern hilfreich“, erklärt Josefine. Das Gefühl für Sicherheit soll aber nicht täuschen. Denn auch, wenn die Schülerrichter nicht über Schuld und Unschuld entscheiden, verhängen sie Urteile und sind dabei äußerst kreativ. „Wir wollen dadurch erziehen und nicht strafen, aber wehtun soll das Urteil natürlich trotzdem“, sagt Evelyn Zinke.

„Die Urteile sind immer individuell zugeschnitten“, erklärt Vincent. Deswegen wollen die Schülerrichter auch die persönlichen Interessen der Straftäter erfahren. Wer gerne zeichnet, muss beispielsweise einen Comic entwerfen, in dem sich mit der Tat auseinandergesetzt wird. Ebenso ist den Schülerrichtern wichtig, einen Bezug zur Tat herzustellen.

Einem Jugendlichen, der ohne Führerschein mit einem Auto unterwegs war, brummten die Schülerrichter einen Vortrag in einer Fahrschule auf. Ein anderer, der gestohlen hatte, entschuldigte sich danach beim Betreiber des Ladens, in dem der Diebstahl stattfand. Ein Parfümdieb musste zwei Wochen in der Kleiderkammer aushelfen. „Um ein Verhältnis zu Geld zu bekommen“, wie Evelyn Zinke erklärt.

Vor allem Fälle von Körperverletzung werden immer häufiger verhandelt, wie Zinke informiert. In der Regel werde dann eine Entschuldigung bei dem Opfer mit einer weiteren Strafe verknüpft. Die Jugendlichen müssen innerhalb eines Monats ihre Strafaufgaben absolvieren. „Wer dann nicht liefert, wird noch einmal erinnert, und wenn dann nichts kommt, geht der Fall zurück zur Staatsanwaltschaft“, sagt Zinke. Das Schülergremium ist für die minderjährigen Täter zwar eine Art zweite Chance, doch wer nicht mitzieht, der verspielt sie ganz schnell.

„Es gibt auch Täter, die nur dasitzen und sich nicht öffnen“, berichtet Josefine. Dann müssen die Schülerrichter auch schon mal deutlicher werden. „Wir machen das schließlich alles in unserer Freizeit und letztlich opfern wir diese für die Täter.“ Es gibt sowohl strenge Schülerrichter als auch „Kumpeltypen“. „Wir haben verschiedene Charaktere in unserem Gremium, das ist optimal“, meint Josefine.

Die wirklich aufmüpfigen Täter seien aber Einzelfälle, denn sie wissen auch: Kommen sie der Strafe nach, wird das als Nachweis an die Staatsanwaltschaft weitergegeben. In der Regel wird das Verfahren dann eingestellt.

„Wir bekommen von Tätern oft auch später noch gutes Feedback“, sagt Evelyn Zinke. Manche bräuchten den kleinen Schubser, um wieder auf den richtigen Weg zu kommen.

Ähnlich wie die Täter sollten auch die Schülerrichter unter 18 sein. Deswegen macht sich die 21-jährige Josefine schon Gedanken über die Zukunft. „Ich würde später gerne als Schöffe arbeiten, sobald wie möglich bewerbe ich mich dafür“, sagt sie. Zwei ihrer Vorgänger sind bereits im Justizbereich aktiv. Schwerfallen wird es ihr trotzdem, dem Schülergremium den Rücken zu kehren. „Jedes Mal, wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, zu einer Art Familie zu kommen, da fällt loslassen schwer“, erklärt sie.

So kann es auch vorkommen, dass die Richter und die Täter sich kennen. „Wir bleiben dann trotzdem neutral, oft hilft es dem Täter oder der Täterin sogar, wenn jemand Bekanntes anwesend ist“, sagt Anna.

Jugendrichter in anderen Bundesländern kennen die Harzer nicht. „Wir versuchen in diesem Jahr, Kontakt zu einem anderen Gremium aufzunehmen“, blickt Evelyn Zinke voraus. „Der Austausch ist auch für die Schüler wichtig, um zu sehen: Wie gehen eigentlich andere Schülerrichter mit bestimmten Fällen um.“

Wegen mangelnder Fälle wurde das Projekt beispielsweise in Hamburg wieder eingestampft. Im Harz gibt es dieses Problem nicht. „Wir arbeiten hier gut mit der Staatsanwaltschaft zusammen“, sagt Zinke. Das bestätigt Staatsanwalt Klaus Bleuel von der Staatsanwaltschaft Halberstadt. „Es ist ein gutes Hand-in-Hand-Arbeiten und die straffälligen Jugendlichen sieht man danach nur selten ein zweites Mal“, sagt Bleuel. Die Erfolgsquote sei enorm hoch, dazu kommen die Vorteile, dass eine Verhandlung über die Schülerrichter schneller abgeschlossen ist und so auch Kosten gespart werden können.