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Schule Mit Ruhe und Ehrlichkeit im Lehrerberuf

Anja Leiß aus Magdeburg ist Grundschuldirektorin mit Leib, Seele und viel Leidenschaft.

Von Kathrin Wöhler 22.09.2019, 10:12

Magdeburg l Rubiks Zauberwürfel ist wie ein sehr dicker Liebesroman. Wer wissen will, ob am Ende wieder alles seine Ordnung hat (Herzchen, Hochzeit, hach!), braucht Geduld und einen langen Atem. Und damit ist das Lebensmotto von Anja Leiß im Prinzip schon beschrieben: Ohne Mühe wirds nichts, doch der Spaß muss mit ins Boot.

Die Schulleiterin der Evangelischen Grundschule in Magdeburg liebt den Zauberwürfel, seit sie ihn mit elf Jahren von ihrem Vater geschenkt bekam. Und weil sie ihre Schule und das Lernen darin nach dem Prinzip vorneweg prägt, lieben ihre Schüler den Würfel genauso. Um für das Foto drei zusammen zu bekommen, bedarf es keiner fünf Minuten, dann stapelt eine Lehrerin die Knobelwürfel vor der 50-Jährigen auf. „Ich tüftele wahnsinnig gern. Auch bis tief in die Nacht. Damit stecke ich dann meine Kolleginnen an – das funktioniert super“, sagt sie und lächelt fröhlich. „Inzwischen gibt´s zum Beispiel einen Kurs, in dem sie mit unseren Kindern Roboter programmieren.“

Die gebürtige Niedersächsin lehrte ursprünglich an einer Reform-Schule in Kassel. 2001 zog sie mit ihrem Mann nach Magdeburg, der hier eine Stelle im Polizeipräsidium annimmt. Sie findet Arbeit an der freien Montessouri-Schule. Als die Evangelische Grundschule 2004 einen neuen Leiter sucht, hadert Anja Leiß mit sich – der Sohn ist noch klein, die Aufgabe groß. Das Schulgebäude in Stadtfeld befindet sich in einem desolaten Zustand, Risse an den Wänden werden notdürftig mit bunten Stoffen überdeckt.

Aber Schulleiterin, das war immer ihr Traum, Freunde und Mentoren erinnern sie daran. Anja Leiß wagt es, unter ihrer Leitung wird die Einrichtung, deren Träger ein Elternverein ist, staatlich anerkannt. Sie knüpft an die Arbeit der Gründer an, schreibt weiter mit dem Träger an Anträgen und Konzepten, so dass die Schule im Laufe der Jahre saniert und modernisiert werden kann. So gelingt auch der schwierige Weg in die Digitalisierung: Seit diesem Jahr lehren die Pädagogen an tafelgroßen Bildschirmen und die Schüler kichern, als heute schon zum dritten Mal die Zeile wegrutscht. Obwohl die Lehrerin doch nur „abwischen“ will. „Wir lernen eben alle noch“, kommentiert Anja Leiß und zwinkert die Kinder verschwörerisch an, als die Kollegin entschuldigend die Schultern hebt.

Die Schulleiterin schiebt lieber ihre Schule als sich in den Fokus des Gesprächs, zeigt die neuen rückenschonenden Stühle für die Viertklässler, die Pläne für den Werkraum und die moderne Aula mit beleuchteten Ausschnitten in den Wänden für Pokale, Geschenke aus Afrika, Schülerkunst und Buchprojekte. „Ich habe so großes Glück“, sagt sie dabei immer wieder. Glück mit den Eltern, die sich für Bildung interessieren. Mit den Kolleginnen, die mitziehen und ihr die Treue halten. Glück mit Anträgen, die meistens genehmigt werden. „Da kann man eine Menge wuppen.“ Dass es auch ihr Talent ist, Leute mitzureißen, ihre Freizeit, in der sie Förderrichtlinien studiert und ihr Netzwerk, das sie knüpft und aufwändig pflegt, steht hintenan.

Anja Leiß findet Lobhudelei scheußlich. „Das möchte ich auch unseren Kindern mitgeben: Nicht ich bin das Wichtigste, sondern die Gemeinschaft. Jeder hat seine Stärken. Freuen wir uns doch darüber, anstatt sie uns zu neiden.“ Für sie bedeutet das auch: vertrauen und zulassen. Jede Projekt-idee darf auf den Tisch. „Deshalb heiße ich wohl An-ja, und nicht An-nein.“ Es wird diskutiert, auch mit den Eltern.

So hat es selbst ein Hund ins Team der 25 Mitarbeiter geschafft. Hündin Jona war ein Wunsch einer Klassenlehrerin, die eine Ausbildung in systemischer Familientherapie besitzt und das Tier immer dienstags und donnerstags mitbringt. Die Kinder lernen in Kursen den Umgang mit der Hündin und profitieren im Unterricht von deren beruhigender Ausstrahlung.

„Denn eigentlich hilft nur Ruhe“, sagt Anja Leiß und lacht bei dem Gedanken, der ihr da kommt. „Bei Frau Leiß ist es leis, sagen meine Schüler.“ Nur durch Ruhe entstehe ein Arbeitsklima, weshalb auch die Räume schlicht gestaltet wurden. „Wir fahren alles zurück zugunsten der Konzentration.“ Bald kommen die neuen Regale, damit die Ranzen und Taschen aus den Klassenzimmern verschwinden. Wände werden vorwiegend in einem sanften Weißton gestrichen.

Lachen, albern, singen, spielen – alles hat hier seinen Raum, doch mit dem ersten Schultag gelten Regeln wie ausreden lassen, zuhören und gegenseitiger Respekt. „Kinder sind heute anders, aber nicht anstrengender“, versucht Anja Leiß eine Bilanz ihrer Erfahrungen. Sie sei nie sauer auf ein Kind, es gebe für jedes Verhalten gute Gründe. Überbehütung der Kinder auf der einen und Überforderung durch Mein-Kind-darf-alles auf der anderen Seite etwa hinterließen Spuren. Aber jedes, wirklich jedes Problem könne mit Hilfe eines Kompetenzteams, das sie individuell zusammenstellt, gelöst werden.

Im Laufe der Jahre hat sie mit ihren Kollegen Strategien entwickelt, holt Eltern und Lehrer an einen Tisch. „Es hilft nicht, etwas nicht zu sagen.“ Auch Kindern. „Sie sind dankbar für klare Worte und Grenzen.“ Und manchmal gehe es ums Aushalten. Wenn Kritikfähigkeit erst geübt werden muss. Oder wenn ein Kind ganz ohne Deutschkenntnisse eingeschult wird. Das kommt vor, weil die begehrten Plätze zugelost werden. So will Anja Leiß eine Elitenbildung abmildern. „Wir schauen nicht auf die Berufe der Eltern, und es gibt für uns keine besseren Kinder. Wir haben dadurch auch Kinder mit einem besonderen Förderbedarf. An dieser Grundschule geht kein Kind verloren.“

Ihr ist vollkommen klar, dass solche Sätze in Zeiten schwierig sind, in denen Lehrermangel herrscht, halbe Klassen aus Flüchtlingskindern bestehen und viele Kinder in Armut und seelischem Mangel aufwachsen. „Ich empfinde deshalb große Dankbarkeit für meine Situation hier und engagiere mich ansonsten in vielen Gremien. Wir sind ein reiches Land, wir müssen uns um unsere Kinder kümmern!“

Sie merkt nicht, dass sie beim Reden alle drei hereingereichten Würfel sortiert. Das kommt vom jahrelangen Training. Auch ein Grundsatz, der in ihrer Schule gelebt wird: Anstrengen statt huschhusch. Wer sich keine Mühe gibt, bekommt auch kein Lob, „die Kinder merken sowieso, wenn wir nicht ehrlich sind.“ So soll zum Beispiel eine gut lesbare Handschrift am Ende der ersten Klasse stehen. Dann werden die Hefte im Begegnungsraum auch ausgestellt. Geradlinigkeit, Empathie und eine große Liebe zu Kindern, das vereint die Schulleiterin in sich auf ganz authentische Weise. Sie möchte so sein, weil sie sich solche Lehrer als kleines Mädchen immer gewünscht hat. Mehrmals musste sie die Grundschule wechseln: Erst zog die Familie von Hannover in einen Vorort von Kassel, weil ihr Vater dort Arbeit bei Kali & Salz bekam. Schließlich der Umzug in die Innenstadt. Dreimal neue Klassen, neue Lehrer, neuer Stoff. Sie war eine stille Schülerin. Einmal lauschte sie einem Gespräch, in dem zwei Lehrer tuschelten: Was solle man nur mit der Kleinen anstellen, wo sie doch nicht einmal die Mengenlehre beherrsche? „Das war schlimm für mich, ich litt ohnehin ständig unter Bauchschmerzen. Da habe ich mir geschworen: Ich werde eine nette Schulleiterin.“

Das hat geklappt. Anja Leiß ist nicht nur nett, sie packt auch mit an, wenn dem Hausmeister beim Schneefegen die Puste ausgeht oder ein Mülleimer nicht geleert wurde. Sie veräppelt an jedem 1. April die Lehrer und treibt ein Spendenprojekt voran, das Kindern in Tansania Bildung und eine bessere Zukunft beschert. Für Anja Leiß ist dies alles ein großer, glücklicher Umstand im Leben. Man verlässt ihr Zimmer aber eher mit dem Gefühl, dass es ein großes Glück für all jene ist, die von ihr ein Stück im Leben begleitet werden.