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Schulstart Zwischen Abstand und Anspannung

Für fast 200 000 Schüler in Sachsen-Anhalt beginnt am Donnerstag das neue Schuljahr. Erstmals seit Corona im Vollbetrieb.

Von Alexander Walter 26.08.2020, 01:01

Magdeburg l Die Laune haben sie sich trotz Corona noch nicht verderben lassen an der Grundschule Stadtmitte in Genthin. Durch die Pandemie fällt die Lehrer-Dienstberatung zum neuen Schuljahr länger aus als üblich – an zwei Tagen hintereinander, jeweils länger als eine Stunde. Trotzdem wird an diesem Montag, drei Tage vor Schulbeginn, gelacht.

„Morgen gibt es Frühstück“, sagt Schulleiter Ingo Doßmann im Lehrerzimmer ganz oben im Haus in die Runde. Und an die Journalisten: „Wären Sie morgen gekommen, hätten Sie auch was bekommen.“ Die feine Prise Ironie sorgt für gute Stimmung im Raum.

Überhaupt sind sie hier froh, dass es wieder losgeht. Nach den wochenlangen Corona-Ferien vor Pfingsten und nur eingeschränktem Regelbetrieb danach sehnen sich die Lehrer nach Normalität. Und doch: Es wird kein normales Schuljahr. In den Augen der Kollegen stehen an diesem Morgen viele Fragen.

Doßmann muss sie beantworten. „Die innere Anspannung ist eine ganz andere als in anderen Schuljahren“, hat der 57-Jährige noch vor Versammlungsbeginn erzählt. Jetzt sitzt der Leiter, zugleich Vorstand bei der Bildungsgewerkschaft GEW, vor seinem Team und erklärt, wie er den Corona-Hygiene-Rahmenplan des Landes ausgestalten will.

„Gut ist, dass der Plan diesmal diesmal rechtzeitig kam“, sagt er. Anders als etwa in Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg, wo das Regierungskabinett erst nach Schulbeginn über Corona-Vorkehrungen beriet. Dann aber hört es erstmal auf mit dem Lob: „Unsere Schüler tragen Masken zwei Wochen, auf den Fluren, nicht aber im Unterricht“, sagt Doßmann. Die vom Land vorgegebene Mindestdauer einer Tragepflicht von zwei Tagen sei für ihn mit Blick auf die Inkubationszeit des Virus „kompletter Blödsinn“. Zustimmendes Nicken in der Runde.

Tatsächlich konnten Schulleiter im Land vor Ort selbst entscheiden, ob sie die zweitägige Mindestdauer der Maskenpflicht für ihre Schule verlängern wollen. Ansonsten gilt hier wie andernorts im Land allgemein das Prinzip „A-H-A“.

Abstandhalten, Hygiene, falls gewünscht Alltagsmasken, sagt Ingo Doßmann. Die 120 Schüler der Grundschule in Genthin werden dafür in zwei feste Kohorten geteilt. Es gibt getrennte Eingänge, Frühstückszeiten und Pausenbereiche. „Im Kampf gegen das Virus ist außerdem Lüften das A & O“, sagt Doßmann. Alle 20 Minuten sind für 10 Minuten die Fenster weit zu öffnen, im Winter 5 Minuten.

Kinder, deren Eltern die Schülererklärung zur Symptomfreiheit nicht unterschrieben haben, werden nicht unterrichtet. „Wir haben ausführlich informiert“, sagt Doßmann dazu.

Gibt es einen Corona-Fall an der Schule oder steigende Fallzahlen im Landkreis springt die Schulbetriebs-Ampel auf gelb. Dann gilt ein eingeschränkter Betrieb mit einem Mindestabstand von 1,5 Metern auch im Unterricht. Die Lehrer sollen ihre Klassen für diesen Fall vorsorglich in A- und B-Gruppen unterteilen, um auf Unterricht in Kleingruppen vorbereitet zu sein. Soweit so klar, möchte man meinen. Der Teufel aber steckt im Detail, das zeigen die Fragen der Lehrerinnen am Tisch. Da ist zum Beispiel Kerstin Stübing. „Kann ich mit den Schülern singen“, fragt die Musiklehrerin. „Chorgesang und Blasinstrumente sind nicht erlaubt, Vokal-Gesang in der Klasse aber schon“, sagt Doßmann.

Vorgaben wie diese zeigen, Corona-Regeln in der Schule sind immer auch ein Kompromiss zwischen Risikominimierung und Alltagstauglichkeit.

Eine andere Kollegin will wissen, ob sie Geodreiecke oder Stifte an Schüler ausleihen darf, wenn diese sie vergessen haben. „Das kannst du machen, aber du musst die Arbeitsgeräte nach jedem Gebrauch dann auch desinfizieren“, sagt Doßmann.

Der Schulleiter selbst blickt mit Sorgen auf die Erkältungszeit. „Husten, Schnupfen, Fieber gelten laut Robert-Koch-Institut (RKI) als Leitsymptome auch für Covid-19 bei Kindern.“ Erkältungssymptome wie diese aber kommen im Winter schon mal häufiger vor. Wie verfahren, wenn jeder dritte Schüler hustet? Das Land will dafür einen Erlass ausgeben. Bis das sogenannte „Schnupfenpapier“ in den Schulen vorliegt, geht Doßmann lieber auf Nummer sicher. „Schüler mit Symptomen werden bei uns nicht unterrichtet, sagt er.. Ich halte mich da an das RKI.“

Auf die Expertise von Medizinprofis setzen auch andere – so das Ökumenische Domgymnasium in Magdeburg. Hier ist der Frust über das Land groß. „Ich bin stocksauer“, sagt Leiter Dietrich Lührs in seinem Büro mit Blick auf die Magdeburger Hegelstraße. Bei ihm sei der Hygiene-Rahmenplan erst zwei Tage nach der Veröffentlichung durch das Kabinett am vergangenen Donnerstag angekommen: „Viel zu spät“, sagt Lührs. Er selbst habe die vergangene Woche damit zugebracht, in Zusammenarbeit mit der Uniklinik Magdeburg einen eigenen, Hygieneplan zu erstellen, sagt der 60-Jährige.

Die entstandenen Regeln sind deutlich strenger als vom Land vorgegeben. Am Domgymnasium mit seinen 850 Schülern in der Magdeburger Altstadt wird es eine zweiwöchige Maskenpflicht auf dem Gelände und im Unterricht geben. „Wir haben eine Seuchenlage“, sagt Leiter Lührs zur Begründung. Nicht hilfreich findet er auch die Vorgabe, in festen Gruppen zu unterrichten. „In der Kursstufe ist das nicht machbar. Unsere Oberschüler wechseln ständig die Räume“, sagt er. Das Domgymnasium setzt deshalb auf eine Kombilösung. Jüngere Schüler bleiben in ihren Klassenverbänden. In der Kursstufe müssen Lehrer Kursräume nach jeder Nutzung desinfizieren.

Auch der Landes-Schulleitungsverband, sieht den vom Land vorgelegten Hygiene-Rahmenplan für die Schulen nicht unkritisch. Zu vieles werde den Schulen überlassen, sagt Chefin Ines Petermann.

Im Sportunterricht etwa ließen sich Klassen wegen fehlender zusätzlicher Hallen einfach nicht strikt trennen. „Wir hoffen, dass das Land uns für unsere Lösungen vor Ort den Rücken stärkt, auch wenn es härter kommen sollte“, sagt Petermann. In Nordrhein-Westfalen ist der Frust von Schulen auf die dortigen Landesvorgaben zwei Wochen nach Schulstart so groß, dass sich Schulleiter in einem Brandbrief an Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) gewendet haben.

In Sachsen-Anhalt sieht es nach solcher Zuspitzung aktuell nicht aus. Auch die Gewerkschaft GEW übte gestern, zwei Tage vor Schulstart, aber grundsätzliche Kritik am Landes-Konzept: So sei der Hygieneplan mit dem Hauptpersonalrat als Stimme der Lehrer erst nachträglich abgestimmt worden. Freiwillige flächendeckende Corona-Tests für Lehrer seien nicht vorgesehen.

Längst nicht jeder sieht die Vorgaben indes so kritisch. Riccardo Hermes, Schulleiter an der Magdeburger Grundschule Am Vogelgesang, hält sie unterm Strich für ein sinnvolles Gerüst.

„Bei uns wird die Maskenpflicht nur zwei Tage gelten“, erzählt Hermes gestern morgen bei einem Kaffee in seinem Büro. Das sei auch in Ordnung sagt, er. Denn: Eltern sollen innerhalb der ersten beiden Tage ja erklären, dass ihre Kinder corona-symptomfrei seien. Sei das der Fall, könne man auf die Masken verzichten. Für Grundschulkinder sei ein Schultag mit Maske zudem eine erhebliche Belastung.

Auch Hermes nimmt die Pandemie deshalb nicht auf die leichte Schulter. In jedem Klassenraum seiner Schule stehen Desinfektionsspender, es gibt ein Wegesystem auf den Fluren, geteilte Essenspausen und Aufenthaltsbereiche auf dem Hof. Zweimal täglich wird das Gebäude gereinigt. „Wir sind optimistisch, dass wir so gut starten können“, sagt der Leiter. „Nachjustieren kann man immer.“ In jedem Fall sei aber wichtig, dass es wieder losgeht.

Noch einmal zurück nach Genthin. Haben die Lehrer Angst um ihre eigene Gesundheit? „Es wäre verkehrt, das Virus zu unterschätzen, aber Angst habe ich nicht“, sagt Margitta Heise, die wie ihre Kollegin Rosita Genth am Sonnabend eine neue erste Klasse einschulen wird.

Genth, mit 59 Jahren etwas älter, räumt ein: Gemischte Gefühle habe sie schon. „Schließlich gehören viele von uns hier schon ein wenig zur Risikogruppe für schwere Corona-Verläufe. „Den Spaß an der Arbeit mit den Kindern wollen wir deshalb aber nicht verlieren.“