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Sommerschule Oxford ist ganz wild auf Wust

Elite-Studenten aus England und den USA kommen jeden Sommer als Sprachlehrer nach Sachsen-Anhalt in die Altmark.

Von Elisa Sowieja 14.07.2017, 01:01

Wust l Chris kann’s nicht lassen. Morgens beim Tauziehen hat er sich schon diebisch gefreut, als er und die anderen aus Oxford und Cambridge das Ami-Team in die Tasche steckten. Jetzt legt er nach. Mit einem hinreißend britischen Akzent klärt der Sprachlehrer seine deutschen Schüler darüber auf, wie die Amerikaner Jahreszahlen aussprechen – und wie man es richtig macht. Seine Englischstunde gibt er auf dem Dachboden eines Kornspeichers mit Feinputz an den Wänden und Blick auf das Gemälde einer Kuh. Sticheleien unter internationaler Elite in altmärkischer Dorfidylle – ein imposantes Bild.

Chris Ellison, ein unverschlossener, höflicher Typ mit Karohemd und Schalk im Nacken, studiert Deutsch und Französisch an einer der renommiertesten Hochschulen der Welt: der University of Oxford. Zum dritten Mal verbringt er jetzt schon seinen Sommer in Wust.

Das Dorf bei Havelberg ist jedes Jahr Gastgeber einer Sommerschule. In Sprachkursen und in Workshops etwa zu Literatur, Musik, Politik und Kunst frischt ein bunter Mix aus Sachsen-Anhaltern sein Englisch auf: Schüler, Studenten, Lehrer, Rentner. In zwei Durchgängen à zwei Wochen kommen jeweils mehr als 100 Teilnehmer zusammen. Unterrichtet wird in der Grundschule und in besagtem Kornspeicher. Wer will, kann zwischen den Kiefern hinterm Sportplatz sein Zelt aufschlagen.

Die Dozenten, knapp zwei Dutzend junger Leute aus England, Amerika und Irland, studieren fast alle an Spitzen-Unis wie Oxford, Cambridge und der Brown University. Sie bekommen hier zwar nur ein Taschengeld, dafür aber Familienanschluss gratis dazu. Denn sie übernachten und essen bei Dorfbewohnern.

Chris brachte damals ein Werbeposter an der Uni auf die Idee, seinen Sommer in Sachsen-Anhalt zu verbringen. „Im Studium haben wir die Geschichte der DDR behandelt. Deshalb war es für mich interessant zu sehen, wo die Leute damals aufgewachsen sind“, erzählt er in astreinem Deutsch. „Außerdem fand ich es toll, dass ein kleines Dorf so weltoffen ist.“

Die letzte Entscheidungshilfe gaben dann noch zwei ehemalige Sommerschul-Dozenten, die Chris von ihrer Zeit in Sachsen-Anhalt vorschwärmten. „Wust hat sich unter den Deutsch-Studenten in Oxford inzwischen herumgesprochen.“

Immerhin gibt‘s die Wuster Sommerschule jetzt schon seit 27 Jahren. Die Elite in die Altmark geholt hat damals die Wolfenbüttelerin Maria von Katte. Als sie kurz nach der Wende das Land ihrer Vorfahren besuchte, den Kattewinkel, kam ihr die Idee für eine spezielle Art von Aufbauhilfe: Sie wollte die englische Sprache ins Ostdorf bringen. Als Oxford-Absolventin pflegte sie beste Kontakte nicht nur zu ihrer Alma Mater, sondern auch zu anderen englischsprachigen Top-Unis.

Also holte sie ein paar Wuster ins Boot – Kirchengemeinde, Bürgermeister, Schulleiter – und fragte Professoren, ob sie mit einigen ihrer Studenten im nächsten Sommer in die Altmark kommen wollen. Und ob sie wollten.

„Das Ganze war damals komplett improvisiert und extrem abenteuerlich“, erinnert sich Ina Leutloff. Die Gymnasiallehrerin gehört vom ersten Jahr an zum Organisationsteam, das inzwischen einen Verein gegründet hat. Immerhin besaßen erst fünf, sechs Leute im Ort ein Telefon. Wer seinen Flug nach Deutschland verpasst hatte, musste die Info notfalls per Telegramm übermitteln. Auch in den Wohnungen der Wuster wurde es oft eng. Leutloff lebte damals mit Mann und zwei Kindern in zweieinhalb Zimmern, für den Besuch aus Amerika zog das Ehepaar auf die Couch.

Den Gästen machte das nichts aus. Im Gegenteil: Die Sommerschule ist schnell zum Selbstläufer geworden. „In Oxford und Cambridge gibt es sogar Wartelisten“, berichtet Leutloff. Wer nach Wust will, muss ein Interview mit einem Professor vor Ort führen. Der sortiert die Bewerber dann in eine Rangliste ein und schickt sie als Vorschlag an die deutschen Organisatoren.

Nigel Caplan hat den Reiz an Wust schon vor 20 Jahren für sich entdeckt. Damals studierte er in Cambridge, heute arbeitet er als Professor an der amerikanischen Universität von Delaware. Seit damals ist er immer wieder nach Sachsen-Anhalt zurückgekehrt, in diesem Jahr leitet er zum ersten Mal das Sprachlehrerteam. Seine Familie hat er einfach mitgebracht. Während Sam (9) und Aidan (4) mit den deutschen Kindern über den Schulspielplatz toben, gibt seine Frau Alicia selbst Kurse.

Was den 39-Jährigen in die Altmark lockt? Die knackige Zusammenfassung lautet: „It‘s all about the people“, es liegt also an den Menschen. „Hier kommen Leute voller Energie und mit unterschiedlichen Interessen zusammen“, erklärt er. „Und du kannst unterrichten, was du willst.“

Denn während am Vormittag in Sprachkursen Grammatik, Aussprache und freies Reden geübt werden, gibt nachmittags jeder Dozent Workshops in irgendetwas, das ihn interessiert – in Englisch, versteht sich. Das kann ein Politik-Vortrag sein, ein Kunst-Kurs oder eine Runde Sport. Nigel Caplin diskutiert zum Beispiel über Shakespeare, seine Frau bringt anderen das Brotbacken bei. Und Vollblut-Brite Chris Ellison hält einen Vortrag über seine Heimat Nordengland.

Auch unter den Teilnehmern der Sommerschule tummeln sich Wiederholungstäter. So wie Karin Gruchenberg aus Brettin im Jerichower Land. Die 61-Jährige kommt seit 1999 jedes Jahr nach Wust. Im Jahr zuvor hatte sie ihre Tochter, damals in der neunten Klasse, zum ersten Mal in die Sommerschule geschickt. „Erst wollte sie gar nicht fahren, und als wir sie am ersten Wochenende abgeholt haben, sprach sie nur noch Englisch mit uns. Da dachte ich: Wow!“ Danach fuhr sie immer mit, einige Male war sie auch mit Mann, beiden Kindern und der Schwiegertochter da. „Mein Sohn und sie haben sich sogar dort kennengelernt.“

Bei der Frage nach ihrer Faszination für die Sommerschule spricht Karin Gruchenberg vom „Wust Feeling“. Und wie fühlt sich das an? „Naja, die Leute sind alle unterschiedlich, aber geeint durch die Freude am Englisch Lernen“, erklärt sie. „Ich könnte mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass ich mich sonst einfach so mit einem 14-Jährigen unterhalten würde.“ Aha, also wieder die Menschen.

Arvid Michaelis ist jetzt zum vierten Mal in der Sommerschule. Dabei hat er gar keinen Englisch-Kurs mehr nötig. Der 17-Jährige aus Aschersleben ist gerade von einem Austauschjahr in Virginia zurück. Trotzdem bleibt er sogar vier Wochen lang in Wust, zusammen mit Eltern und Geschwistern. „Das ist unser Familienurlaub“, erzählt er. Auch Avid schwärmt von den Leuten. Und von Scott, der immer so herrliche Reden über amerikanische Politik schwingt. Auf seinem Plan steht diesmal übrigens auch ein Workshop von Chris. Da kann er ja dann mal eine Lanze für die Amis brechen.

Das Anmeldeformular und weitere Infos findet man im Internet.