1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Die Vergangenheit ist allgegenwärtig

Staatssicherheit Die Vergangenheit ist allgegenwärtig

26 Jahre nach der Wende liest eine Harzerin in ihrer Stasiakte den Namen des Mannes, der sie bespitzelt hat.

Von Jörn Wegner 05.01.2017, 00:01

Blankenburg l Mit einem Mal war die Vergangenheit wieder da. Sie kam in Form von Schwarz-Weiß-Kopien, Seiten voller Schreibmaschinenschrift, Stempeln und Abkürzungen.

Vor Jahren hatte Ilona Meier* bei der Stasiunterlagenbehörde angefragt, ob es zu ihrer Person Akten gebe. Nach langer Recherche in den Magazinen der Behörde kam die Antwort im Sommer vorigen Jahres. Einen rund 40 Jahre alten Vorgang konnten die Mitarbeiter finden. Demnach wurde Ilona Meier zu DDR-Zeiten umfangreich überprüft und ausspioniert. Ziel war es, herauszufinden, ob die junge Frau für eine Tätigkeit als Inoffizielle Mitarbeiterin geeignet gewesen wäre.

Bei Meier hat der späte Aktenfund ein mulmiges Gefühl ausgelöst. Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der DDR hat die Frau aus dem Harz Angst. Der Grund: In ihrer Akte taucht der Name eines in der Region bekannten Mannes auf. Peter K., Träger der Ehrenmedaille der Stadt Blankenburg und anderer Auszeichnungen, seit Jahren engagiert im Kinder- und Jugendsport. Der Mann, der heute angesehener Teil des Sportvereinslebens ist, war damals Führungs-IM (FIM), eine Art Gruppenleiter im Spitzelsystem der Stasi.

Ihren echten Namen möchte die Frau auf keinen Fall in der Zeitung lesen, auch nicht ihren genauen Wohnort, den damaligen Arbeitsplatz schon gar nicht. Peter K. soll keine Rückschlüsse auf ihre Person ziehen können. „Er steigt mir sonst über den Zaun“, sagt sie. Die Furcht der Frau ist spürbar.

Dabei ist die Wahrscheinlichkeit der Wiedererkennung gering, denn K. hat in den 70er- und 80er Jahren Hunderte Berichte über Personen verfasst. Damit sollte er vor allem Fluchten in den Westen verhindern helfen – ein Schwerpunkt der Stasi im früheren Kreis Wernigerode, denn die Grenze quer durch den Harz war schwerer zu kontrollieren als anderswo.

Peter K.s handschriftliche Verpflichtungserklärung ist zwei Seiten lang und im Ton von Überzeugung und Eifer verfasst. Viele der Berichte des IM „Franz“, so K.s Deckname, bestehen aus protokollierten Banalitäten, vieles hätte den Betroffenen trotzdem schaden können. 1972 berichtet K. von einem Kneipengespräch einiger Jugendlicher über eine Fantasie-Reise in die Bundesrepublik. „Sie beschränkten sich in erster Linie darauf, daß man sofort auffällt, wenn man aus der DDR kommt“, berichtet Peter K. Gefährlicher hätte es für einen Sportkollegen werden können. Der bat 1974 den damaligen FDJ-Sekretär K. vertraulich darum, ihn bei der Auswahl der Reisegruppe zur Fußball-WM in der Bundesrepublik zu berücksichtigen. K. meldete dies umgehend und empfahl, seinen Sportfreund nicht fahren zu lassen.

Zwei Monate später listet er dem MfS die Namen derjenigen auf, die bei einer Jugendtourist-Reise nach Rumänien mit schwedischen Touristen gesprochen haben. Bei einer FDJlerin, die kurz vor Großveranstaltungen regelmäßig krank wird, dringt K. auf Disziplinarmaßnahmen, einen Bürger, der bei einer Maifeier keine Nelke kaufen will, denunziert er, eine Frau meldet er als „lockere Dame“, die nach „Beziehungen geschlechtlicher Art“ zu Ausländern suche.

Es gibt zahllose Personenberichte des FIM, die wohlwollenden sind in der Minderzahl: „Sie tritt parteilich und vorbildlich in der Öffentlichkeit auf“, schreibt er über eine Lehrerin. Viele von K.s Berichten sind im vorauseilendem Gehorsam verfasst. Oft sind es Protokolle privater Gespräche und zufälliger Beobachtungen.

Peter K. ist sich bis heute keiner Schuld bewusst. „Wer was will, soll sich bei mir melden“, sagt er gegenüber der Volksstimme. Auch Träger der Blankenburger Ehrenmedaille zu sein, ist für K. offenbar kein Problem. „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Die Auszeichnung habe ich für den Sport bekommen.“ K. sagt, die Blankenburger CDU hätte ihn für die Auszeichnung vorgeschlagen, er habe sich nicht darum gerissen. Stadtverbandsvorsitzende Birgit Kayser weist das zurück. „Von uns ist der Vorschlag nicht gekommen“, sagt sie der Volksstimme. Dass K. für das MfS gearbeitet hat, weiß Kayser aus ihrer eigenen Akte. Die Ausmaße und seine Tätigkeit als FIM seien ihr aber unbekannt gewesen. Peter K. bleibt dabei: „Die wussten das.“

„Warum bezieht er keine Stellung?“, fragt Ilona Meier. Der Ärger ist der Frau anzumerken. Nicht nur, weil K. selbstverständlich Ehrungen entgegennimmt, sondern auch, weil er kein Wort über seine Vergangenheit verliert und keinen Anlass für eine Entschuldigung sieht.

Harald Freyberger hat sich viel mit den psychischen Folgen des Überwachungsstaates beschäftigt. Der Professor leitet die Klinik für Psychiatrie des Hanseklinikums Stralsund und lehrt an der Universität Greifswald. Dass die Opfer viele Jahre nach der Wende noch immer leiden, hänge vor allem mit der eigenen Unsicherheit zusammen. „Sie müssen plötzlich die eigene Biografie umschreiben“, erklärt Freyberger. Für Verunsicherung sorge auch die Erkenntnis, dass man sich in Nachbarn, Freunden und Verwandten jahrelang getäuscht hat. „Man hat das Gefühl, der eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen zu können.“

Trotzdem empfiehlt Freyberger, Akteneinsicht zu nehmen. „In dunklen Räumen sollte das Licht eingeschaltet werden.“ Konfrontation und Auseinandersetzung sei der richtige Weg.

Peter K. sei kein Einzelfall, sagt Freyberger. Wenn die Täter von damals unbeirrt weiterleben, keine Reue zeigen, sich nicht entschuldigen und sogar mit Auszeichnungen bedacht werden, sei das für deren Opfer besonders entmutigend. Betroffenen, die leiden, empfiehlt der Psychologe die Beratung bei den Dienststellen der Stasiunterlagenbehörde (BStU). In Sachsen-Anhalt sind diese in Halle und Magdeburg zu finden. Daneben gibt es Selbsthilfegruppen, in schweren Fällen sei die Psychotherapie ratsam.

Dass die Vergangenheit von Peter K. in Blankenburg bis heute unbekannt geblieben ist, bezweifelt Freyberger. „Es waren ja nicht nur Einzelpersonen, es gibt ganze Stasi-Netzwerke. Es wird Leute geben, die das gewusst haben.“

Die Frage, ob Peter K.s Vergangenheit vor der Verleihung der Ehrenmedaille bekannt war, lässt Blankenburgs Bürgermeister Heiko Breithaupt (CDU) unbeantwortet. Die Pressestelle des Rathauses teilt auf Anfrage mit: „Da es keine speziellen formalen Voraussetzungen gibt, eine Ehrenmedaille zu überreichen, existiert auch kein Aberkennungsprozess.“ Zudem sei K. von seinem Sportverein Lok Blankenburg vorgeschlagen worden. Lok-Vorsitzender Sven Ungethüm ist von der Nachricht über die Vergangenheit seines Sportfreundes sichtlich überrascht. „Ich kann mir das nicht vorstellen“, sagt er. Eine Aberkennung der Ehrenmedaille wäre angesichts K.s Engagements in der Jugendarbeit „sehr schade“. Mehr kann und möchte Ungetüm zu dem Fall nicht sagen.

1984, mitten in der Aktivitätsphase von „Franz“, waren 33 FIM in der MfS-Kreisdienststelle Wernigerode tätig. Sie waren Teil der insgesamt 785 Inoffiziellen Mitarbeiter (1987). 64 Hauptamtliche waren allein im Kreis Wernigerode beschäftigt. In den 80er Jahren gab es ungefähr 20 000 aktive Personenakten, 100 000 Einwohner hatte der Kreis zur selben Zeit.

*Name von der Redaktion geändert

 

Die Bürgerberatung der BStU-Außenstelle Magdeburg ist unter (0391) 62 71 21 51 erreichbar.