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Stalking Hilflos dem Terror ausgesetzt

Von tausend Stalkingfällen in Sachsen-Anhalt wurden 2015 nur 16 Taten angeklagt. Michelle Linsel aus Güsten kämpft bis heute um ihr Recht.

13.07.2016, 23:01

Güsten l Es ist der 29. August 2015, als sich Michelle Linsel nach neun Monaten von ihrem Freund trennt. „Er hat noch versucht, mich umzustimmen, aber der Entschluss stand für mich fest“, erinnert sich die 34-Jährige aus Güsten. Immer wieder klingelt ihr Telefon. „Am Ende habe ich mir eine neue Nummer besorgen müssen“, sagt sie. Doch all das ist nichts dagegen, was in den kommenden Monaten auf sie zukommt. Es folgen die ersten Hass-Nachrichten.

Mitte September erreicht der Stalkingterror eine neue Phase. Das Sicherheitsschloss der Garage von Michelle Linsel ist mit Bauschaum besprüht und wüste Beleidigungen mit sexuellen Anspielungen stehen an die Wand geschmiert. „Da habe ich noch keine Anzeige erstattet“, sagt sie.

Doch später werden die Belästigung und Bedrohung immer schlimmer. Fast täglich hält ihr Stalker eine neue „Überraschung“ für sie parat. Sie sagt: „Ich bin hilflos seinem Terror ausgesetzt.“

Mal liegen hunderte Reißzwecken vor ihrer Garage, mal sind die Wände besprüht und später taucht auch ein Flyer überall im Ort auf, in dem Michelle Linsel mit vollem Namen und Adresse als „Hure“ bezeichnet wird. Auf dem Blatt ist sie mit ihrem Kopf abgebildet, daneben eine unbekannte nackte Frau. Die Aufmachung des Flyers gleicht einer schlecht gestalteten Werbung für Prostitutierte.

„Ein Großteil der Zettel wurde in der Schule meiner Tochter verteilt. Daraufhin kontaktierte mich die Schulleitung, die mir riet, zur Polizei zu gehen, was ich auch tat“, sagt sie.

Danach habe die 34-Jährige gemeinsam mit ihrem Vater den Ex-Freund zur Rede stellen wollen. Doch der 28-Jährige habe sich nur versteckt.

Danach beginnt das Stalking erst richtig. Als die junge Mutter vom Dienst nach Hause fahren will, ist das Fahrrad mit einem fremden Schloss angeschlossen. Später im Briefkasten liegt ein Umschlag mit einer Trauerkarte und einer Patronenhülse. Auf der Karte stehen ihr Name, das Geburtsdatum, und das Sterbedatum ist mit Fragezeichen versehen. „No warning shot“ steht da auch, was so viel wie „kein Warnschuss“ heißen soll.

Wieder erstattet Michelle Linsel Anzeige. Polizeisprecher Marco Kopitz vom Revier Salzlandkreis erklärt später: „Wir waren angesichts der Lage am 23. Januar zweimal bei dem Beschuldigten. Als wir ihn erreicht haben, führten wir mit ihm eine Gefährderansprache.“ Diese kann im Rahmen der Gefahrenabwehr geführt werden, um das weitere Verhalten von möglichen Straftätern im Vorfeld zu beeinflussen. Die individuelle Ansprache soll signalisieren, dass polizeiliches Interesse an seiner Person besteht.

Doch der 28-Jährige lässt sich offensichtlich dadurch nicht beeinflussen. Bei einer Fahrradtour mit der Tochter macht Michelle Linsel eine Entdeckung an den Autobahnbrücken zur A 14. Ihr Name ist groß mit sexuellen Beleidungen daran geschmiert. Sie wird mit „Hure“ und „Nutte“ beschimpft.

Wieder erstattet sie Anzeige bei der Polizei und wieder wird alles aufgenommen. „Die Polizistin hat mir aber geholfen, wo sie konnte. Sie nahm sogar Verbindung mit der Autobahnmeisterei auf, die hat dafür gesorgt, dass die Schmiererei sofort verschwindet. Ich glaube, sie haben ihm das auch in Rechnung gestellt“, sagt Linsel später.

Inzwischen trudeln bei der jungen Frau die ersten Schrei­ben der Staatsanwaltschaft ein, in der ihr Ex-Freund auch eindeutig als Beschuldigter genannt wird. Allerdings heißt es in dem Schreiben zum Ermittlungsverfahren wegen Nachstellung (Stalking), versuchter Nötigung, Verleumdung und Sachbeschädigung: „Nach dem Ermittlungsergebnis ist die Schuld als gering anzusehen. Auch das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung gebietet es nicht, eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Der angerichtete Schaden ist verhältnismäßig gering. Einschlägige Vorstrafen sind nicht vorgemerkt.“ Aus diesem Grund sehe man von einer weiteren Strafverfolgung ab. Nur wenige Tage später flattern ihr drei weitere „Einstellungen“ ins Haus, in der auf den „Privatklageweg“ verwiesen wird.

Indes geht ihr persönlicher Albtraum weiter. Fast täglich muss sie Bestellungen von Versandhäusern abblocken und Pizzalieferanten erklären, dass nicht sie die Bestellungen, sondern jemand anderes diese aufgegeben hat. Sie erstattet wieder Anzeige.

Insgesamt laufen acht Ermittlungsverfahren, von den vier noch offen sind.

Der 28-Jährige nimmt zu den Vorwürfen mehrseitig per Facebook öffentlich Stellung und dreht den Spieß um. Er wolle klarstellen, dass er von einer „nicht ganz auf der Höhe befindlichen Irren verfolgt, belästigt, beleidigt auf diverse Arten, in meiner eigenen Reichshauptstadt Güsten bedroht werde ...“

Er schreibt weiter: „Fast täglich flattern bei mir Anzeigen, Rechnungen, Vorladungen usw. für irgendwelche Straftaten, die ich nie begangen habe, und alles trägt ihren Namen und ihre von Rachsucht zerfressene Handschrift.“ Er habe „kein Interesse mehr an dieser Frau und trauere ihr keine Träne nach“. Was dann allerdings an üblen Hasstiraden folgt, lässt eher auf das Gegenteil schließen.

So schreibt er: „Wo sind nur die Terroristen, wenn man sie gerade mal braucht? Diese IS-Terroristen schlagen echt immer an der falschen Stelle zu, ich hätte da echt ein strategisch wichtiges Wohnobjekt für euch.“ Und: „Früher hat man so was wie dich noch mit Fackeln und Mistgabeln aus dem Dorf gejocht und im Brunnen kopfüber ersoffen, ja die gute alte Zeit ...“

Über sich selbst schreibt er, dass er „keinen Alkohol mehr trinke“ und „weder ein Psychopath, Stalker oder Verbrecher“ sei.

Michelle Linsel erstattet angesichts der Zeilen erneut Anzeige bei der Polizei wegen Bedrohung und Beleidigung. Der Ausgang bleibt offen.

Oberstaatsanwalt Frank Baumgarten sagt auf Nachfrage: „Neben strafrechtlicher Verfolgung können Betroffene auch zivilrechtliche Schritte nach dem ,Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen‘ einleiten.“ Danach wäre es unabhängig von den Ermittlungen möglich, per einstweiliger Anordnung etwa Annäherungen oder Kontaktaufnahmen zu untersagen.

Ähnlich sieht es auch Oberstaatsanwalt Klaus Tewes von der Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg, der die Probleme beim Stalking gut kennt: „Für uns gibt es, außer der Strafverfolgung an sich, keine Möglichkeit, Stalking zu unterbinden.“ Der Gesetzgeber habe den Straftatsbestand der Nachstellung zudem als Privatklage­delikt klassifiziert. Das heißt, die Betroffenen können das Delikt auch strafrechtlich vom Gericht verfolgen lassen, ohne dass es einer vorhergehenden Untersuchung der Staatsanwaltschaft bedarf.

Kritik übt Tewes am Paragraf 238 Strafgesetzbuch. Die beharrliche Nachstellung ist darin seit 31. März 2007 unter Strafe gestellt. Das Gesetz habe sich in der Praxis nicht bewährt, was auch an der Schere zwischen angezeigten Straftaten und Verurteilungen ersichtlich ist. So sind von den etwa tausend angezeigten Stalkingfällen in Sachsen-Anhalt im vergangenen Jahr nur 16 Taten angeklagt worden. In 23 weiteren Fällen erließen die Staatsanwaltschaften Strafbefehle. In weit über der Hälfte aller Fälle stellten die Anklagebehörden die Verfahren wegen nicht hinreichenden Tatverdachts oder eines Verweises auf den Privatklageweg ein. „Es lässt sich oft nicht der vom Gesetz geforderte Kausalzusammenhang zwischen dem beharrlichen Nachstellen und „der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung des Opfers“ nachweisen. Es sei ein „Erfolgsdelikt“.

Für Michelle Linsel würde dies zum Beispiel erst greifen, wenn ihr durch das Stalking nichts anderes als ein Wegzug übrig geblieben wäre.

Sie sagt aber: „Das kommt für mich aber gar nicht infrage.“

Das Bundeskabinett hat deshalb am Mittwoch einen Gesetzentwurf auf dem Weg gebracht, der auch Fälle wie die von Michelle Linsel einschließt. Stalking soll auch dann strafbar sein, wenn das Opfer dem Druck nicht nachgibt und sein Leben nicht ändert.

Der Gesetzentwurf sieht vor, dass Nachstellungen nicht länger „schwerwiegende Beeinträchtigungen des Lebens verursacht haben“ müssen. Die Taten müssen dann lediglich dazu „objektiv geeignet sein“. Zudem sollen die Staatsanwaltschaften nicht mehr auf den Privatklageweg verweisen, sondern selbst alle diese Verfahren führen und zum Abschluss bringen.