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Strafjustiz Weniger Schnellverfahren in Sachsen-Anhalt

Die Justiz hält nicht viel vom kurzen Prozess. Sachsen-Anhalts Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad erklärt die Gründe.

Von Matthias Fricke 27.12.2017, 00:01

Die Anzahl der beschleunigten Verfahren ist stark rückläufig. Sollte es nicht im Sinne des Erziehungseffektes umgekehrt sein?
Jürgen Konrad:
Wir haben zwei schnelle Varianten zur Verfügung. Neben dem beschleunigten Verfahren können wir auch Strafbefehle nutzen, um zügige und effektive Strafen herbeizuführen. Ich würde übrigens immer das Strafbefehlsverfahren vorziehen, weil es aus Ressourcen-Gründen die Hauptverhandlung spart. Wenn jemand geständig ist oder ihm der Vorwurf eindeutig nachgewiesen werden kann, was ja Voraussetzung für jedes beschleunigte Verfahren ist, dann ist ein Strafbefehl besser. Wenn er den akzeptiert, ist das schneller als das gesamte Prozedere einer Hauptverhandlung. In diesem Jahr wurden rund 13.000 Strafbefehle ausgesprochen. Diese Zahl ist im Vergleich zu den Vorjahren auch konstant geblieben.

Wenn man der Argumentation folgt, könnte man sich ja gleich die beschleunigten Verfahren sparen?
Nein, weil es bestimmte Konstellationen gibt, in denen wir beschleunigte oder besonders beschleunigte Verfahren durchaus brauchen. Das ist vor allem bei den Fällen so, wenn absehbar ist, dass die Beschuldigten für uns später nicht mehr ohne Weiteres erreichbar sind. Wenn wir also einen reisenden Ausländer haben, der nicht aus dem EU-Bereich ist, da haben wir später das Problem, den Strafbefehl zuzustellen. Das müssen wir aber. Denn wir machen ihm über das Gericht einen Strafvorschlag, den er akzeptieren kann oder eben nicht. Tut er das nicht, muss er zur Hauptverhandlung erscheinen.

Gerade bei den Ladendiebstählen ist der Ausländeranteil in den letzten Jahren gestiegen. Da hätte es dann auch mehr beschleunigte Verfahren geben müssen?
Das heißt ja nicht, dass es unbedingt durchreisende Ausländer sein müssen. Es fallen auch EU-Ausländer in die Statistik. Bei diesen haben wir inzwischen, was die Zustellung von Strafbefehlen betrifft, sehr gute Erfahrungen gemacht.

Außerdem ist der Ladendiebstahl nicht immer für beschleunigte Verfahren geeignet. Da kommt häufig die Polizei erst Wochen später ins Spiel. Es müssten also Fälle sein, bei denen der Ladendetektiv mit der Kamera den Beschuldigten auf frischer Tat fasst und der Polizei sofort übergibt. Das ist an sich schon selten. Die meisten Märkte sind inzwischen dazu übergegangen, Videoaufnahmen erst am Ende des Tages auszuwerten. Dann wird erst eine Anzeige geschrieben. Selbst wenn der Beschuldigte dem betroffenen Ladenbesitzer namentlich bekannt ist, reicht die Zeit dann nicht mehr für ein beschleunigtes Verfahren.

Es gibt doch noch andere Delikte, bei denen beschleunigte Verfahren sich lohnen würden.
Ja, das stimmt. Wir können wie gesagt auch nicht ganz auf sie verzichten. Manche brauchen eben tatsächlich den stärkeren Eindruck einer Hauptverhandlung, die müssen dann eben auch mal vor dem Richter stehen. Der ihm dann auch mal ordentlich die Leviten liest. Vor allem für Jugendliche wäre so was gut, aber für diese ist das beschleunigte Verfahren nicht zulässig. Da gibt es zwar auch ein vereinfachtes Verfahren, das aber nicht in diese Statistik mit einfließt.

Im vergangenen Jahr gab es nur 45 besonders beschleunigte Verfahren, sogenannte Turbo-Urteile. Warum?
Weil es nur die Fälle betrifft, die direkt von der Hauptverhandlungshaft vor den Richter kommen. Oder sie werden direkt vorgeführt. Ich glaube, Bochum hatte mal so ein Modell: Morgens geklaut und Nachmittags vor dem Richter.

Das ist doch ein guter präventiver Ansatz. Die Strafe würde auf dem Fuße folgen ...
Ja, aber darf ich mal den Aufwand schildern? Diese besonders beschleunigten Verfahren sind konzentriert an den Sitzen der Staatsanwaltschaften in Halle, Magdeburg, Stendal, Dessau und den Zweigstellen in Halberstadt und Naumburg. Begeht zum Beispiel jemand in Burg einen Diebstahl, muss ich ihn in Stendal vor den Richter bringen. Das heißt für die Polizei, dass er nach der Festnahme sofort vernommen werden muss. In weit über 90 Prozent der Fälle handelt es sich dann um Ausländer, das funktioniert also nur mit Dolmetscher. Dadurch, dass es nur noch einen Zentralen Polizeigewahrsam in Magdeburg und Halle gibt, muss dieser Beschuldigte dann dorthin gebracht werden. Und wenn die Verhandlung kurze Zeit später stattfindet, müssen wieder Beamte ihn vorführen und die gesamte Zeit begleiten. Das heißt, es werden mindestens zwei Streifenwagenbesatzungen komplett mit diesem einen Fall blockiert. Für den Fall, dass eine Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten erwartet wird, muss dem Beschuldigten außerdem ein Verteidiger beigeordnet werden.

Der ehemalige Justizminister Curt Becker hat aber mal gesagt, schnelles Recht ist gutes Recht ...
Dem ist nicht ganz so. Für die Öffentlichkeit hört sich das immer gut an, wenn die Strafe auf dem Fuß folgt. Der gängigste Kommentar der Strafprozessordnung sieht das anders und hält das beschleunigte Verfahren für nicht bedenkenfrei. Die Gefahr, dass ein kurzer Prozess zu ungerechten Ergebnissen führen kann, ist nicht zu leugnen. Ein Strafverfahren sollte laut Bundesgerichtshof in einer Atmosphäre ruhiger Gelassenheit ablaufen. Das beschleunigte Verfahren als Allheilmittel zu bezeichnen, ist deshalb sicherlich nicht richtig. Jeder hat schließlich das Recht auf ein faires Verfahren.

Aber es geht schneller.
Nein, eben nicht. Gegenüber dem Strafbefehl gibt es kaum zeitliche Einsparungen. Der Aufwand und Nutzen stehen in keinem Verhältnis. Das Gericht muss eine komplette Hauptverhandlung organisieren. Da sitzen ein Richter, eine Protokollführerin, ein Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft und alle Zeugen. Gegebenenfalls müssen auch ein Dolmetscher und ein Verteidiger anwesend sein. Da entstehen auch sehr hohe Kosten.

Dann könnte man es ja abschaffen?
Aus rein praktischen und zeitlichen Erwägungen schon. Wofür wir das beschleunigte Verfahren natürlich brauchen, ist die Abschreckung. Wir hatten zum Beispiel im Bereich Naumburg mit georgischen Ladendieben zu tun, da haben wir verstärkt das besonders beschleunigte Verfahren angewandt. Das spricht sich gerade bei organisierten Banden schnell herum. Und in der Tat gab es in der zweiten Hälfte dieses Jahres in dem Bereich keinen einzigen organisierten Ladendiebstahl durch Georgier mehr.

Was müsste denn passieren, dass die Zahlen von beschleunigten Verfahren im Sinne der Abschreckung wieder steigen?
Man kann die Fälle ja nicht herbeireden. Wenn es sich nicht anbietet, geht es nicht. Während in anderen Bundesländern nur vier Prozent der bei den Gerichten angeklagten Fälle beschleunigte Verfahren sind, liegen wir in Sachsen-Anhalt sogar mit sieben bis acht Prozent noch sehr gut. Wir machen also schon davon Gebrauch. Und man muss ja auch sehen, dass die anderen Verfahren bei dem hohen Aufwand ja auch liegen bleiben.

Es geht doch einfach nur darum, die Verfahren zu beschleunigen. Dass es nicht genug Personal bei der Polizei und bei den Gerichten gibt, kann ja nicht der Grund sein, auf dieses Mittel zu verzichten.
Das stimmt. Wir haben aber natürlich Verpflichtungen, Ressourcen zu schonen. Aufwand und Nutzen müssen sich hier die Waage halten. Und das ist eben nur selten der Fall. Wir müssen immer im Blick haben, was es am Ende bringt. Der Gesetzgeber hat uns ja dazu verpflichtet, diese Verfahren bei Bagatellfällen anzuwenden. Und da ist der Rahmen, außer wenn es um Abschreckung geht, schon sehr eng gesetzt. Ein weiteres Problem ist auch das Straflimit von einem Jahr. Auch damit sind dem Richter enge Grenzen gesetzt.

Diese Argumente galten doch aber schon immer. Die Zahlen sind inzwischen jedoch um die Hälfte zurückgegangen.
Das liegt auch daran, dass sich die Sachverhalte offensichtlich seltener anbieten und möglicherweise komplexer werden. Bei manchen werden viele Verfahren auch zusammengefasst, das funktioniert nur in einem Normalverfahren. Wir nutzen die Möglichkeiten also nur dort, wo sie wirklich etwas bringen. Alles andere wäre nur statistische Augenwischerei. Wenn es zum Beispiel um Beschaffungskriminalität von Drogenabhängigen geht, wären wir zum Beispiel auch schon deshalb aus dem beschleunigten Verfahren heraus, weil auch eine Unterbringung in einer Therapie infrage kommt. Dann ist der Sachverhalt schon nicht mehr einfach. Das gleiche gilt bei Intensivtätern.

Aber warum hat ausgerechnet Dessau extrem höhere Zahlen beschleunigter Verfahren als alle anderen?
Weil wir dort vor einigen Jahren ein Pilotprojekt eingerichtet haben. Dort arbeitet die Staatsanwaltschaft mit einem Richter zusammen, der sich an dem Pilotprojekt beschleunigte Verfahren beteiligt hat. Das sind vermutlich immer noch Auswirkungen davon, so dass die Verfahren auf dem hohen Level geblieben sind.