Berufungsprozess am Landgericht Magdeburg: Kind 2,5 Jahre nicht zur Schule geschickt Stress mit pubertierendem Jungen: Verletzte Stiefvater seine Fürsorgepflicht?
Wo stoßen elterliche Erziehungsrechte an ihre Grenzen? Wo beginnt strafrechtliches Handeln? Diese Fragen soll ein Berufungsgericht in Magdeburg klären. Im Mittelpunkt steht ein Jugendlicher, der monatelang die Schule nicht besuchte.
Magdeburg l "Ich habe mit meiner Erziehung Fehler gemacht. Sollte ich Martin damit geschadet haben, tut es mir aufrichtig leid." Bedrückt, fast schon schüchtern wirkt der Angeklagte Jens K. gestern. Er sitzt in einem kleinen Saal im Landgericht Magdeburg, streicht mehrfach über die Tasten seines Laptops und schaut ungläubig durch eine Nickelbrille.
Zum ersten Mal äußert sich der 39-jährige, promovierte Akademiker zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft gegen ihn. Er hat viel zu sagen und wählt seine Worte mit Bedacht. Es ist sein Berufungsprozess. Er will sich erklären. Davon habe ihm ein Anwalt im Prozess zuvor abgeraten.
Mit seiner Frau Steffi T. (41) soll Jens K. deren Sohn einige Tage in einer spärlich möblierten Wohnung eingesperrt sowie zuvor an manchen Tagen den Zugang zur elterlichen Wohnung versperrt haben. Auch sollen beide den Jugendlichen Martin ab 2006 etwa 2,5 Jahre nicht in eine öffentliche Schule geschickt, sondern selbst zu Hause unterrichtet haben.
Sie sollen damit ihre Fürsorge- und Erziehungspflicht verletzt, Martin der Freiheit beraubt, ihn bei einer Auseinandersetzung körperlich verletzt sowie genötigt haben. Dafür erhielt Jens K. ein Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung, Steffi T. ein Jahr und sechs Monate.
Doch "was ist falsch an diesem Urteil?", fragt Vorsitzender Richter Gerhard Köneke. "Wo ist das, was Martin aussagte, falsch?" Das müsse das Gericht nun aufklären.
Martin sei zwischen 2006 und 2008 ein pubertierendes Kind gewesen. Es habe sich viel verändert, berichtet der Angeklagte. Zu Hause habe es immer häufiger Zoff gegeben. "Der Junge hielt sich nicht an Vereinbarungen, kam abends zu spät nach Hause oder blieb sogar fern. Wir machten uns Sorgen", erklärt Jens K.
Der intelligente und musikalisch begabte Martin sei bis 2006 auf ein Gymnasium gegangen, dort aber von den Mitschülern gemobbt worden und deshalb der Schule ferngeblieben. Ein Psychologe habe eine posttraumatische Belastungsstörung bei ihm diagnostiziert. Die Eltern nahmen Martin von der Schule.
Zu Hause sollte er für die Grundfächer lernen, um später einen Abschluss zu schaffen. "Das funktionierte gut", sagt Jens K. "Bitte denken Sie nicht, er habe nichts gelernt. Ich habe täglich mit ihm geübt, er hatte hunderte Bücher." Doch gingen die Eltern mit dieser Entscheidung nicht doch zu weit?
Bis 2008 besuchte Martin keine Schule, nabelte sich weiter von den Eltern ab und wurde aggressiv, berichtet der Stiefvater. "Wenn ich Martin jetzt erlebe, ist er ein Mensch, den ich nicht mehr kenne."
Streitigkeiten mit den Großeltern, die Geburt des Bruders Anfang 2006 und die zunächst verheimlichte Bekanntschaft Martins mit einem Mann hätten den Konflikt zugespitzt. Um dem Jugendlichen Ruhe zum Lernen zu verschaffen, habe die Familie eine neue Wohnung gemietet. Ein Stuhl und eine Matratze seien dagewesen, Martin und der Stiefvater nach Aussage von Jens K. ebenfalls. Der Rest der Familie sollte nachkommen.
Doch wurde Martin wirklich in dieser kargen Wohnung mehrere Tage eingesperrt? Verletzten die Eltern damit ihre Fürsorgepflicht? Jens K. sagt nein. Licht ins Dunkel soll am 30. November die Aussage von Martin bringen.