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Survival-Kurs Mehlwürmer als Aperitif

In einem Survival-Camp lernen die Teilnehmer, worauf es beim Überleben wirklich ankommt. Ein Selbstversuch im Oberharz.

26.04.2017, 23:01

Benneckenstein l In der Nacht wache ich auf. Zitternd. Der kalte Wind pfeift in meinen Unterstand, der Waldboden ist feucht. Ich versuche durch die Tannenzweige nach draußen zu schauen. Es schneit. Ich stopfe alle verbliebenen Kleidungsstücke zu mir in meinen viel zu dünnen Schlafsack und versuche, wieder einzuschlafen. Ich muss bis zum Morgen durchhalten. Allein finde ich aus dem Wald eh nicht heraus.

Ein Tag zuvor, 12 Uhr: Unser Survival-Camp in der Nähe von Benneckenstein im Oberharz beginnt später als geplant. Zwei von acht Teilnehmern fehlen. Mit mir warten unter anderem Physiotherapeutin Julia (18) aus Hettstedt (18), Sebastian (39) aus Warburg (Nordrhein-Westfalen) und Carsten (32), von Beruf Gärtner, aus Watenstedt (Landkreis Helmstedt). Warum sind sie hier? Julia und Carsten haben den Kurs geschenkt bekommen. Sie wollen sich davon überraschen lassen, was die Entbehrung in den nächsten 24 Stunden mit ihnen macht. Sebastian denkt praktischer. Er will auf einen Katastrophenfall vorbereitet sein. Dazu hat er sich zu Hause einen Lebensmittelvorrat angelegt und einen Fluchtrucksack zusammengestellt. Die Praxis soll nun folgen. Trainer Golz hat seit den Anfängen 2011 schon jede Berufsgruppe erlebt: Friseurinnen, Banker, einmal kam eine Gruppe von den Zeugen Jehovas.

Auch ich, der Journalist, will in den nächsten 24 Stunden lernen, wie mit einfachen Hilfsmitteln eine Unterkunft entsteht, wie ich Feuer mache und Nahrung beschaffe. Unsere Ausstattung: Isomatte, Schlafsack, Taschenlampe und ein Messer. Das Handy – bleibt natürlich draußen.

Trainer René Golz, Lederhose, Kopftuch, Piercing in der Augenbraue, am Gürtel ein imposantes Messer, zündet sich jetzt erst mal in aller Ruhe eine Zigarette an. „Die anderen Jungs haben sich verfahren, geht aber gleich los“, verkündet er in aller Gelassenheit. Eine halbe Stunde später reiten die Nachzügler mit quietschenden Reifen ein. Den ersten ihrerseits selbst auferlegten Härtetest, die Anfahrt ohne Navi, haben sie offenkundig verbockt. Golz führt uns in sein Reich, ein rund 20 Hektar großes Waldstück, gepachtet vom zuständigen Forst. So authentisch wie möglich soll es hier zugehen, sagt Golz.

Ganz klar: Alles andere als eine Simulation ist mit uns Survival-Novizen kaum möglich. Deshalb hat er vorsichtshalber auch etwas zu essen eingepackt. „Wenn es nichts zu beißen gibt, schlägt mir die Stimmung in der Gruppe sonst zu schnell um – Erfahrungswerte“, sagt er.

Zunächst brauchen wir ein Dach über dem Kopf. Im Abstand von rund zehn Metern errichten wir Unterstände. Es ist Ende April, für die Nacht sind trotzdem Temperaturen knapp unter null Grad angesagt, Schneeregen wahrscheinlich. Deshalb dürfen wir uns ein Plane über unseren Unterstand legen. Ich lehne Äste fächerförmig an den Stamm eines Baumes, dichte das Konstrukt mit Zweigen ab. Fertig. „Den Eingang würde ich auf der wetterabgewandten Seite einplanen. Nur so als Hinweis“, flüstert mir Golz im Vorbeigehen zu. „Schon klar“, murmele ich – und fange noch mal neu an. Die anderen Teilnehmer werkeln in der Nähe. Gärtner Carsten ist schon fertig. Er hat in einer halben Stunde eine Art prächtigen Naturholz-Pavillon gebaut – Respekt! „Bissel wohnlich soll‘s ja sein“, sagt er.

Als alle fertig sind, geht es auf eine zweistündige Wanderung. Zundermaterial und Essbares im Visier. „Wir nehmen alles mit, was wir brauchen können“, sagt Golz. Minuten später krieche ich neben Physiotherapeutin Julia über eine Wiese. Bisher wusste ich nur, wie ein Gänseblümchen aussieht. Jetzt suchen wir Wilddill, Sauerampfer, Brennessel und Löwenzahn. Daraus wollen wir Tee und Suppe machen.

Von dem nasskalten Wetter bekomme ich schon jetzt nicht mehr so viel mit. Ich spüre: Die Natur beruhigt mich. Das Gefühl für Zeit – wie weggeblasen. Wie eine Gruppe von besonders aufmerksamen Grundschülern tapern wir hinter dem Survival-Coach her. „Im Vorbeigehen jede verfügbare Kalorie mitnehmen“, bläut uns Golz ein und verschwindet hinter einem Totholz-Ast. Augenblicke später schiebt sich der 47-Jährige eine mikroskopisch kleine Fingerspitze glänzender Kügelchen in den Mund. „Spinneneier“, sagt er. „Probieren?“ „Äh, nö, danke, noch keinen Appetit“, sage ich.

Nachgespült wird selbstredend erst in der Nähe einer Quelle. Denn das Wasser aus dem Bächlein, das neben uns herfließt, könnte verschmutzt sein. Weiter geht’s. Wir brauchen Zunder, um später ein Feuer zu entfachen. Dazu schneiden wir Birkenrinde von den Stämmen der Bäume. „Autsch“, tönt es aus der Richtung von Physiotherapeutin Julia. Golz verteilt das mittlerweile dritte Pflaster in drei Stunden Überlebenscamp. „Normale Quote“, sagt er. Nach zwei Stunden geht es zurück zum Camp. Aus der Ferne tutet die Harzer Schmalspurbahn und ruft mir ins Bewusstsein, dass ich eigentlich nur wenige Kilometer von der Zivilisation entfernt bin.

Auf dem Rückweg lernen wir an einem Wildpfad noch eben, wie wir mit einer Wurzel eine Wildfalle bauen. Nur hypothetisch versteht sich, denn Fallen dieser Art sind in deutschen Wäldern verboten. Ich glaube, für meine Fallen wären die Rehe oder Luchse im Harz ohnehin zu schlau.

Zurück im Lager ist es ein gutes Gefühl meinen fertigen Unterstand zu erblicken. „Für die Psyche unbezahlbar, deshalb haben wir den zuerst gemacht“, meint Golz. Jetzt geht‘s ans Eingemachte. Wir brauchen Feuer. Der Überlebenscoach zeigt, wie es funktioniert und ergänzt: „Habe noch niemanden erlebt, der das nicht geschafft hat“. Oha, Druck. Also: Feuerstein in die eine, Messer in die andere Hand und die Schneide darüberziehen. Nichts passiert. Ich stelle mich, wie bei allen Tätigkeiten, die auch nur ein Mindestmaß an Geschick erforderen, relativ dämlich an. Im Augenwinkel sehe ich schon die Funkenregen von Julia und Sebastian. Als ich kurz davor bin, zu resignieren, endlich: Ein Funke. Eben noch Survival-Novize, höre ich mich den Satz „ICH habe Feuer gemacht“ grunzen.

Jetzt ist es an der Zeit einen Erdofen zu buddeln, darin versenken wir ein mit Blättern ummanteltes Tiefkühlhuhn (sonst gäbe es nur Kräuter). Ein zünftiges Feuer entsteht darüber. Als Aperitif gibt es  lebende Mehlwürmer. Schmecken holzig und nussig zugleich. Nach und nach versammeln wir uns erschöpft am Feuer, trinken Brennesseltee und essen selbstgemachtes Stockbrot.

Survivaltrainer Golz erzählt der Runde, was dazu geführt hat, dass er sich in der Wildnis so heimisch fühlt. Der gebürtige Hallenser, gelernter Fotograf, sei in der DDR immer wieder angeeckt. Mit seinem, wie er es nennt, „angeborenem Freiheitsgefühl“ gerät er immer wieder in Konflikt mit der Obrigkeit. Als er mit Anfang 20 versucht, über die ungarische Grenze nach Österreich zu türmen, wird er geschnappt.

Die Haftzeit im „Roten Ochsen“ in Halle prägt ihn. Geschlossene Räume sind ihm seither suspekt. Wochen vor dem Mauerfall kauft ihn die BRD frei. Später wandert er nach Spanien aus, bleibt 16 Jahre. Seit 2011 bietet er zusammen mit seiner Frau die Überlebenscamps im Harz an. „Einen besseren Job gibt‘s für mich nicht. Das ist kein Beruf, das ist Berufung“, sagt der 47-Jährige.

Als einer der Vorreiter ist er längst nicht mehr der Einzige, der derartige Camps auf seiner Webseite und auf „Erlebnis-Portalen“ wie Jochen Schweizer oder MyDays anbietet. Deutschlandweit könne man bei etwa 40 Anbietern vergleichbare Survival-Camps buchen, sagt er. Die meisten davon in Süddeutschland. Dass sich die Anbieter den derzeit boomenden Markt zukünftig streitig machen, das glaubt Golz nicht.

Unterdessen ist es kurz nach 23 Uhr. Die Runde am Feuer wird kleiner. Überleben ist kein Zuckerschlecken und macht müde. Julia verschwindet mit Steinen, die sie in Feuernähe erhitzt hat, in ihren Schlafsack. Der Gärtner zieht sich auf sein Cottage zurück. Auch ich verkrieche mich mit bleischweren Lidern in meiner Behausung. Stunden später, es ist bitterlich kalt, zweifele ich mehr denn je an meiner Widerstandskraft. Mein Schlafsack ist zu dünn. Ich bin nicht mehr als ein verweichlichter Städter, das ist klar. Aber das Experiment jetzt abbrechen? Kommt nicht infrage. Ich stopfe jedwedes auffindbare Textil in den Schlafsack. Meine Füße stecke ich in meinen Rucksack. Nach einer gefühlten Ewigkeit schlafe ich wieder ein.

Als ich um acht Uhr in meinem klammen Schlafsack erwache und den Kopf hinausstrecke, scheint die Sonne. Die dünne Schneeschicht der Nacht ist geschmolzen. Obwohl es sich so anfühlt, habe ich keinen einzigen Zeh verloren. Ich fühle mich gerädert, nehme einen tiefen Atemzug von der frischen Harzluft. So schlimm war es doch gar nicht.

Sebastian, Julia und Co. sind teils seit sechs Uhr auf den Beinen, haben Feuer gemacht und Tee gekocht. Zum Frühstück gibt’s geräuchertes Erdhähnchen. In der verbleibenden Zeit wird noch mal das Fallenstellen geübt, im Feuermachen haben wir nun schon etwas Routine. Unser Abenteuer neigt sich dem Ende entgegen. René sagt, wir seien eine verhältnismäßig ruhige Truppe gewesen. „Ruhiger als die Zeugen Jehovas“, sagt er.

Fazit: Ich bin froh, dass ich durchgehalten habe. Auch Julia ist stolz, sich durchgekämpft zu haben. Sebastian will nach dem Trip den Inhalt seines Notrucksacks nochmal überprüfen. René Golz erwartet in zwei Tagen bereits die nächste Gruppe. In diesem Fall ist dann lediglich ein Messer pro Teilnehmer erlaubt. „Nicht so ein Luxus-Survival wie bei euch“, sagt er und lacht.