Vor 15 Jahren wurde in der Lutherstadt Wittenberg die erste Tafel Sachsen-Anhalts gegründet – mittlerweile sind es 28. Tafeln: Bekämpfen oder stützen sie die Armut?
Wir verteilen an Bedürftige Lebensmittel, die sonst weggeschmissen werden, sagen die Tafel-Macher. Ihr verfestigt Armut, kontern Soziologen. Längst hat die Diskussion die Basis erreicht, zeigt ein Besuch der ältesten Tafel des Landes in Wittenberg.
LutherstadtWittenberg/Magdeburg l An diesem Herbsttag im November lacht die Sonne über Wittenberg. Vor einem Supermarkt-Flachbau in einem renovierten Neubauviertel im Osten der Lutherstadt lehnt eine alte Frau ihr Fahrrad an ein Geländer. Am Lenker baumeln große Plastik-Einkaufstaschen. Die Rentnerin mit der abgetragenen roten Winterjacke lacht nicht. Sie ist eine der rund 50 Bedürftigen, die sich an diesem Tag bei der Wittenberger Tafel Lebensmittel holt.
Ihre drei Beutel werden die Ein-Euro-Jobber und ehrenamtlichen Tafelhelfer an diesem Tag mit Gemüse und Obst, Brot und Toast, Kuchen, Tiefkühlpizza, Wurst, Käse, Schokolade, Jogurt und Milch füllen. Familien mit Kindern bekommen zusätzlich noch Kindernahrung und Süßes. Die Ware kommt von mehr als 60 Supermärkten, Bäckerei-Ketten und Lebensmittellagern der Region. Backwaren und Gemüse würden die Händler sonst auf den Müll werfen, die Kühlprodukte wurden aussortiert, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum beinahe abgelaufen ist.
Punkt 12 Uhr: Eine kleine Menschentraube hat sich vor der Tafel versammelt. Inga Schubert schließt für eine halbe Stunde die Tür auf. Die 63-Jährige gründete vor 15 Jahren die Wittenberger Tafel als erste in Sachsen-Anhalt und sechste in Ostdeutschland. Schubert gilt heute ein wenig als deren graue Eminenz. 1995 hatte die damalige Inhaberin eines Bäckerei- und eines Fleischereifachgeschäftes im Fernsehen einen Beitrag über die aufkeimende Tafelbewegung gesehen und sich gedacht: Das wäre auch etwas für Wittenberg! Sie trommelte ein paar Bekannte zusammen und gründete wenig später den Verein Wittenberger Tafel e.V.
"Zwölf Jahre lang haben wir ehrenamtlich Essen aus Autos heraus verteilt, anfangs nur an zehn oder 20 Familien", denkt Inga Schubert zurück. "Dann kam Hartz IV." Der Andrang wurde immer größer, und seit drei Jahren hat der Verein nun ein festes Domizil in den Räumen eines ehemaligen Supermarktes. "2000 Euro kostet uns die Miete im Monat", berichtet Inga Schuberts Tochter Tabea (30), die ihr halbes Leben mit der Tafel verbracht hat und die einzige Angestellte der Wittenberger Tafel ist.
Ihr Gehalt, die Miete, Steuern, Benzin- und Wartungskosten für drei Autos, Strom für 13 Kühltruhen und -räume kann sich der Verein nur dank Spenden und eines Obolus von 1,50 Euro leisten, den die Tafelnutzer pro Beutel zahlen. Das Geld sammelt Tabea Schubert jeden Monatsanfang ein, wenn die Nutzer Bares in den Taschen haben. "So wissen wir in etwa, wie viele Leute kommen", erklärt sie.
Bei der Wittenberger Tafel kann aber nicht jeder erscheinen, wie er Zeit und Lust hat - alles ist durchorganisiert. Die Nutzer müssen einen Einkommensnachweis mitbringen und eine Bedürftigkeitserklärung ausfüllen (siehe Infokasten). Azubis, Arbeitslose, alleinerziehende Mütter, Rentner - rund 1500 Menschen nutzen die Tafel in Wittenberg. Das Klischee vom betrunkenen Obdachlosen treffe längst nicht mehr zu, beobachtet Inga Schubert. "Die Leute kommen, weil sie es brauchen." Einmal wöchentlich erhalten sie Lebensmittel, je nach Wochentag mit unterschiedlichen farbigen Karten. "Wer zweimal nicht erscheint, fällt raus und kann erst nach einem Jahr wieder nachfragen", erklärt Inga Schubert. Strenge Regeln, doch sie sind nötig, damit die Helfer Planungssicherheit haben. Waren es anfangs nur bedürftige Familien, kommen nun immer mehr Senioren. "Ein Witz, was auf deren Rentenbescheid steht", findet Inga Schubert, selbst im Ruhestand. Viele hätten zu DDR-Zeiten nicht genug verdient oder seien nach der Wende dauerhaft arbeitslos geworden. Einen Rechtsanspruch auf Hilfe hat niemand. Doch manche vergessen, dass das Tafel-Angebot in Wittenberg größtenteils ehrenamtlich ist und fragen: Wieso ist heute keine Wurst dabei? "Dann sage ich, geh in den Laden und kauf dir welche", sagt Inga Schubert. Zu DDR-Zeiten seien die Leute froh gewesen, wenn es was gab - heute werde gemeckert, wenn die Bananen eine Stelle haben. Die meisten Nutzer sagen "Danke schön", aber Inga und Tabea Schubert erleben auch Frust, Neid und Missgunst. Viele blenden aus, dass die Ehrenamtlichen und die Ein-Euro-Jobber nur sonntags frei haben und sonst jeden Tag früh am Morgen starten, um ihr 262 Kilometer langes Händler-Netzwerk abzuklappern, die Spenden einzusammeln und anschließend in Wittenberg und Gräfenhainichen zu verteilen.
"Die Arbeit macht Spaß, wenn alles funktioniert", sagt Inga Schubert. Aber ginge es nach ihr, würde sie zum Jahresende zuschließen. Denn die Tafelarbeit im Verein sei undankbar. "Zum Glück gibt es die Lebensmittelspender, Stiftungen und Handwerksbetriebe vor Ort, die uns unter die Arme greifen", sagt Schubert. Auch mit der Arge, der Strukturförderungsgesellschaft Wittenberg, dem Jobcenter und dem sozialen Dienst sei eine enge Zusammenarbeit entstanden. Aber weder von der Stadt, noch vom Landkreis oder dem Land gebe es finanzielle Unterstützung. Und immer noch werfen viele Lebensmittelhändler ihre übriggebliebene oder überschüssige Ware lieber weg, statt sie zu spenden.
Die Zeiten, dass die Tafeln und ihre Helfer uneingeschränkt positiv gesehen werden, sind indes vorbei. "Tafeln verhindern massenhafte Lebensmittelvernichtung, machen Armut sichtbar und lindern Armutssymptome", sagt der Sozialethiker Alexander Dietz. Gleichzeitig trügen sie aber ungewollt zu einer Normalisierung von Armut und zur Legitimation einer Politik bei, die auf Armutsbekämpfung verzichte und soziale Rechte durch Mildtätigkeit ersetze, so Dietz.
Der Soziologe Stefan Selke, Tafelforscher und Initiator des Tafelforums, geht mit den Tafeln scharf ins Gericht. "Sie verteilen nur um, machen aber keine nachhaltige Arbeit", sagt er im Volksstimme-Gespräch. Gerade Wohlfahrtsverbände würden aus Eigeninteresse einen neuen Markt schaffen, in dem Bedürftigkeit die Funktion von Kundenbindung hat. Die Politiker sieht Selke wie Dietz nur als passive Zuschauer, die die Tafel-Macher heroisieren. "Tafeln verhindern keine Armut. Sie werden aber zunehmend Teil der Hilfsindustrie und beschäftigen sich zunehmend mit sich selbst. Und damit verstetigen sie den Status Quo der Armut", ist Selke überzeugt. Er plädiert dafür, auf die neun oder zehn Millionen Menschen im Land zu schauen, die die Tafeln nicht nutzen, obwohl sie bedürftig wären. "Das eigentliche Problem ist, dass es diese Form der Armut in einem der reichsten Länder der Erde überhaupt gibt."
Mathias Gröbner, Länderbeauftragter der Tafeln in Sachsen-Anhalt, verteidigt die Arbeit der Tafeln. "Wir sammeln überzählige Lebensmittel ein und schonen Ressourcen in der Wegwerfgesellschaft", sagt er. Selbst wenn das System teils missbraucht werde, komme immer noch ein Großteil bei den Hilfebedürftigen an. "Wir dürfen den Staat aber nicht aus der Verantwortung nehmen", betont Gröbner und fragte auch auf Landesebene um Hilfe - ergebnislos.
Den Vorwurf, der Staat ziehe sich aus der sozialen Daseinsvorsorge zurück, weist Sozialminister Norbert Bischoff (SPD) indes entschieden zurück. "Wir haben gerade in den vergangenen Jahren die Bemühungen in Bund, Land und Kommunen insbesondere gegen Kinderarmut verstärkt", so der Minister. Ein Beispiel sei das Bildungs- und Teilhabepaket. Das Land stehe dazu, Menschen in Hilfesituationen zu unterstützen und sie zu befähigen, sich selbst zu helfen.
Auch Bischoff lobt die Mitmenschlichkeit der Tafel-Bewegung. Aber er empfinde es als beschämend, dass es Menschen gebe, die auf Essen- und Kleider-Spenden der Tafelbewegung angewiesen sind. "Davor dürfen wir die Augen nicht verschließen. Tafeln sind eine Mahnung für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gleichermaßen. Es gilt, entschiedener gegen Armut anzugehen", so der Minister. Gegen Armut und soziale Ausgrenzung helfe nur fair bezahlte Arbeit.
In der Wittenberger Tafel hat die Ausgabe nur eine halbe Stunde gedauert, dann geht es ans Aufräumen und Umladen. Die Helfer können durchatmen, trinken eine Tasse Kaffee und sprechen über ihre Arbeit. "Stefan Selke hat Recht. Tafeln unterstützen die Armut", sagt Inga Schubert. "Unser Grundgedanke ist Einsammeln und Verteilen, doch viele Tafeln vergessen das und bieten noch Nachhilfe, Kleiderkammern oder Ähnliches an", stimmt ihr Tochter Tabea zu. Allein der Bundesverband der Tafeln sei ein Riesenapparat, der hunderttausende Euro im Jahr koste.
Gibt es die Wittenberger Tafel auch in weiteren 15 Jahren noch? "Wenn sich in Deutschland nichts grundlegend ändert", antwortet Inga Schubert, "ja."