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Tierischer Helfer Helferin auf vier Pfoten für Lukas

Labradorhündin Mary arbeitet als Behindertenbegleithund bei der Familie Fleischmann in Parchen.

Von Simone Pötschke 16.09.2017, 16:18

Parchen l Lukas, der sechsjährige schwerbehinderte Sohn der Familie Fleischmann aus Parchen (Jerichower Land), wird rund um die Uhr aufopferungsvoll von seiner Mutter Stephanie betreut. Zu keinem Zeitpunkt stand das für sie außer Frage. Ein Full-Time-Job ohne Pausen, der ihr an sieben Tagen die Woche alles abverlangt. In Mary, einer Assistenzhündin, weiß sie inzwischen eine treue Begleiterin auf vier Pfoten an ihrer Seite.

Da gibt es diese Momente, in denen sich bei Lukas ohne erkennbaren Anlass Wut anstaut und später auch in einem Anfall entlädt, erzählt die junge Mutter, während sie mit all ihren Sinnen ihren kleinen Sohn beobachtet, der in einem Rollstuhl sitzend spürbar unruhiger und reizbarer wird.

Intuitiv erfasst dann Labradorhündin Mary in diesem Moment die Situation, schmiegt sich lautlos an Lukas, kratzt mit ihren Pfoten an den Fußstützen des Rollstuhls und nötigt Lukas damit liebevoll Aufmerksamkeit ab. Die bedrohliche Wutspirale ist gebrochen. Erleichterung bei Stephanie Fleischmann.

Wieder einmal hat sich die Labradorhündin als Partnerin von Lukas unentbehrlich gemacht. Mary, die im Sommer mit einer erfolgreichen Prüfung ihre dreijährige Ausbildung zur Assistenzhündin abschloss, gehört so mittlerweile zu einem festgefügten familiären Team, das sich um das Wohl des schwerstbehinderten Jungen müht und ihm ein Stückchen Lebensqualität ermöglicht.

Lukas kam in der 23. Schwangerschaftswoche in der Uni-Klinik Magdeburg mit einem Gewicht von 600 Gramm zur Welt. Das Laufen wird er nicht erlernen, er muss rund um die Uhr über eine Sonde ernährt werden und leidet an einem schweren Anfallsleiden. Vor allem in der Nacht krampft der Sechsjährige.

Dann ist der Einsatz von Mary, die am Bett von Lukas schläft, gefragt. Denn Mary ist von ihrer Trainerin Ines Pawlitzki dazu ausgebildet worden, einen sich ankündigenden Krampfanfall bei Lukas zu „erschnüffeln“ und dies bei seinen Eltern unverzüglich anzuzeigen. Die Hündin eilt dann in das elterliche Schlafzimmer und schlägt mit Anschupsen Alarm. „Wir können dann schnell handeln und Medikamente geben, so dass weitere Schädigungen im Gehirn von Lukas minimiert werden können“, erklärt Stephanie Fleischmann, selbst gelernte Krankenschwester.

Ines Pawlitzki, lizensierte Trainerin und Ausbilderin sowie 1. Vorsitzende des Deutschen Berufsverbandes für Therapie- und Behindertenbegleithunde e. V. , hat den Weg Marys von Welpenbeinen an begleitet. Die Ausbildung sei für die Vierbeiner ein harter Weg, der überhaupt nichts gemein habe mit einer Tierfilm-Romantik etwa der Lassie-Spielfilme. Das seien sicherlich schöne emotionale Filme gewesen. Mit gewissem Training könnten Hunde Darsteller sein, doch ein großer Teil dieser Filme sei eben gute Kameraführung, lacht die robuste Ausbilderin herzhaft.

Seit 1999 bildet Ines Pawlitzki, die in Ringelsdorf bei Tucheim zu Hause ist, Therapie- und Begleithunde aus. Als gelernte Ergotherapeutin sei es für sie nur ein kurzer Schritt zur Hundeausbilderin gewesen, erzählt sie. „Um die zwei Dutzend Hunde werden es schon gewesen sein, die „durch ihre Hände“ gingen. Heute täten diese Vierbeiner ihren Dienst in Seniorenheimen, in der Arbeit mit Kindern, die eine Entwicklungsverzögerung aufweisen, oder auch in Therapie-Werkstätten und Wohngruppen, sogar in Hospizen.

Der Verein, dem sie vorsteht, finanziert sich aus Spenden und Stiftungsgeldern. In der Ausbildungsregion Sachsen-Anhalt ist sie die Einzige, die dieser Profession über den Verein nachgeht. Bundesweit sind es knapp zehn Mitstreiter, die lizensiert die Ausbildung von Therapie und Begleithunden betreiben. Der Verein selbst zählt 80 Mitglieder. Mary hat ihre drei Lehrjahre beginnend ab dem Welpenalter als Familienhund der Fleischmanns absolviert. Regelmäßiges Training, einmal wöchentlich, wurde in der Häuslichkeit absolviert. Mehrtägige Seminare in Nordrhein-Westfalen kamen dazu.

Stephanie Fleischmann erinnert sich dabei an einen „anstrengenden, zeitintensiven Prozess für beide Seiten, bei dem auch sie lernen musste, sich gegenüber dem Hund zu behaupten.“ Ohne eine stimmige Chemie zwischen Ausbilderin und Familie hätte das jedoch nicht funktioniert.

Die Ausbilderin vergleicht diese drei Jahre gern mit der Entwicklung eines Menschen. Im ersten Jahr erlerne der Hund die Grundkommandos, erwerbe sozusagen seine Schultüte. Im zweiten Jahr würden die Grundlagen für seine spätere Arbeit gelegt, die hohe Schule für einen Behindertenbegleithund. „Das ist das Hormon-Alter“, scherzt Pawlitzki. Mit der Festigung des Erlernten würde im dritten Lehrjahr dann das Erwachsenenalter erreicht.

Aber Behindertenbegleithunde würden stets individuell auf die Bedürfnisse jedes Betroffenen ausgebildet. Und das für einen 24-Stunden-Modus. Bei der Ausbildung von Therapie- und Begleithunden sei deshalb Flexibilität das A und O. „Ein Ausbilder kann nicht von der Stange arbeiten“, sagt Ines Pawlitzki. Entscheidend für Marys erfolgreichen Einsatz als Assistenzhund, erklärt ihre Ausbilderin, sei die Bereitschaft der Hündin gewesen, bewusst den Kontakt zu Lukas herzustellen. Hunde, davon ist Ines Pawlitzki überzeugt, könnten als sensible Tiere „besser lesen als wir“. Man müsse als Ausbilderin deshalb genau erkennen, was der Hund anbiete, welche seiner Eigenschaften als Behindertenbegleithund mit einem Training ausgeformt werden können. „Mit jedem Hund verbindet sich damit auch ein Experiment.“

Mary ist dafür ein gelungenes Vorzeigebeispiel. Wenn Lukas krampft, spürt sie, dass irgendetwas anders ist. Instinktiv zeige sie dies dann der Familie an. Mit viel Lob und Streicheleinheiten wird Mary dann vermittelt, dass dieses Verhalten von Frauchen und Herrchen gewünscht werde. Mary hat sich zur Freude der Familie zu einem Schutzengel auf vier Pfoten gemausert. Die Lektionen von Ines Pawlitzki haben gefruchtet.

Mary ist Lukas beim An- und Ausziehen behilflich, öffnet und schließt Schubladen oder Türen, hebt Gegenstände, die Lukas fallen lassen hat, wieder auf. Oder beschützt ihn, wie unlängst bei einem Besuch eines Geldinstituts. Als sich ein Kunde lautstark über die Anwesenheit eines Hundes in der Schalterhalle entrüstete und Lukas unruhig wurde, stellte sich Mary in Abwehrhaltung behütend vor den kleinen Jungen.

Stephanie Fleischmann und Trainerin Ines Pawlitzki erleben, dass Labradorhündin Mary dem kleinen Lukas guttut. „Ich habe vor drei Jahren einen ruhigen, introvertierten, wenig kontaktfreudigen Jungen kennengelernt. Er sprach seinerzeit sehr undeutlich. Durch den Umgang mit Mary hat er sein Sprachpotenzial und die Sprachhäufigkeit ausbauen können“, resümiert die Ausbilderin.

Für Luka’s Mutter Stephanie ist es ein Riesenschritt für die Entwicklung ihres Sohnes nach vorn, dass er in den zurückliegenden drei Jahren gelernt hat, immer besser zu sprechen. „Waren es sonst nur Versatzstücke, mit denen er sich verständigt hat, hört er jetzt nicht auf zu erzählen“, sagt sie.

Stephanie Fleischmann ist stolz darauf, dass Lukas und seine Freundin Mary so gut miteinander harmonieren und ein prima Team geworden sind. Das sei ein Gewinn für die ganze Familie, die Mary aber auch Freiräume gibt, einfach einmal Hund sein zu dürfen, im Garten zu tollen oder sich auf dem Grundstück zu vergnügen.

Auch Ines Pawlitzki, die hin und wieder selbst nach Marys bestandenen Prüfung bei Familie Fleischmann vorbeischaut, blickt auf eine dreijährige, erfüllende Tätigkeit in Parchen zurück. „Ich habe in Familie Fleischmann eine sehr liebevolle Familie kennengelernt. Sie hat mir stets das Gefühl vermittelt, gern aufgenommen worden zu sein. Ich bin heute sehr froh, dass wir diesen Weg gemeinsam gegangen sind.“