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Verbrecherjagd Die ersten Ermittler am Tatort

Leichen, Einbrüche und Überfälle gehören zum Alltag des Kriminaldauerdienstes in Sachsen-Anhalt, den die Volksstimme begleitet hat.

Von Matthias Fricke 15.12.2016, 00:01

Magdeburg l Der weiße Mercedes Vito holpert über die Landstraßen des Bördekreises, als Kriminalhauptmeister Jens Hoffmann den Anruf mit der Meldung aus der Zentrale in Magdeburg erhält: „Toter Jäger auf einem Hochsitz.“ Der 55-jährige Ermittler sagt seinem Kollegen Sven Koch: „Der Fundort klingt nicht alltäglich.“

Das, obwohl beide als langjährige Ermittler beim Kriminaldauerdienst (KDD) schon jede Menge gesehen haben. Tote zwischen mehr als hundert großen Flaschen „Klaren“ im Wohnzimmer, Leichen in Messi-Wohnungen oder am Bahndamm. Ihnen ist kein menschlicher Abgrund fremd.

Nach der Schutzpolizei sind sie die Ersten am Tatort. Von ihrer Ermittlungsarbeit hängt ab, ob ein Verbrechen später aufgeklärt bzw. überhaupt erkannt wird. An Bord haben sie dazu alles, was am Tatort nötig ist: Kameras, Diktiergerät, Handschuhe, große akkubetriebene LED-Strahler mit Stativen, einen Leuchtballon, der eine Turnhalle ausleuchten könnte, ein vier mal vier Meter großes Zelt zur Spurensicherung und einen persönlichen Spurenkoffer. Dieser hat die Größe eines Seesacks. „Da ist dann noch unsere persönliche Ausrüstung und Bekleidung für die Brandermittlung drin“, sagt Hoffmann.

Doch zunächst erweist sich das interaktive Navigationssystem auf dem Fahrzeug als hilfreich. Der Ansitz, in dem der Jäger noch immer sitzen soll, befindet sich irgendwo an einem Wald westlich von Haldensleben. An der Lichtung warten neben der Schutzpolizei weitere Jäger. Sie sind die Freunde des Opfers, wie sich später herausstellen wird.

Die beiden Kriminalisten lassen sich von den Uniformierten am Fundort der Leiche einweisen. Bekannt ist zu diesem Zeitpunkt nur: Der Jäger hat mit einem Freund an einer Gemeinschaftsjagd teilgenommen. Während einer den Hochsitz etwa 500 Meter weiter besetzt hat, nahm der spätere Tote gegen 9.15 Uhr auf eben jenem Ansitz Platz. Als sich bis gegen Mittag nichts tat, nahm der Hauptzeuge seine Sachen und wollte den 64-Jährigen abholen. Doch der zeigte keine Lebenszeichen mehr. Der alarmierte Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Der zusätzlich hinzugezogene Hausarzt notierte: „plötzlicher Tod, unklare Ursache.“ Damit ist es ein Fall für den Kriminaldauerdienst.

Die beiden Ermittler nehmen routiniert ihre Arbeit auf. Sie fotografieren, messen und sprechen ihre Erkenntnisse ins Diktiergerät. Sie können zunächst schnell aufklären, dass die Tasche und das Gewehr des Toten von den helfenden Jägern am Fuß des Ansitzes abgestellt wurden. Das Jagdgewehr und die Munition stellen sie sicher. Ein Schuss wurde nicht abgefeuert. Koch gibt der Zentrale einen Zwischenstand: „Bisher deutet nichts auf Fremdeinwirkung oder einen Unfall hin.“ Doch Genaueres wissen die Ermittler erst, wenn sie eine Leichenschau vorgenommen haben. „Normalerweise machen wir das gleich vor Ort, wenn wir in einer Wohnung sind. Hier gibt es aber zu viel Öffentlichkeit“, sagt der Beamte. Er entscheidet sich, die Leichenschau beim Bestatter vorzunehmen.

Inzwischen wollen die Jäger endlich die Familie vom Tod des Mannes per Telefon unterrichten. „Auf keinen Fall“, entgegnet Koch entschieden. „Wir haben für solche Sachen extra das Kriseninterventionsteam“, sagt er. Der repektvolle Umgang mit den Angehörigen ist ihm wichtig. Die Hinterbliebenen sollen nichts über das Telefon erfahren.

Indes ist der Bestatter auf der Lichtung eingetroffen. Die Jäger dürfen sich von ihrem toten Freund noch am offenen Sarg verabschieden. Dann fahren die Beamten zum Bestatter. Bei der äußeren Leichenschau untersuchen die Kriminalisten den gesamten Körper nach Anhaltspunkten auf ein Verbrechen oder einen Unfall. Sie finden aber keine, so dass für die Ermittler ein Herzinfarkt immer wahrscheinlicher wird. Wenn am Abend die Kriminalisten ihre Ergebnisse zu Papier bringen, werden es am Ende mehr als 30 Seiten samt Analysen und Fotodokumenten sein.

Diese Akte wird später von einem spezialisierten Fachkommissariat noch einmal bewertet und der Staatsanwaltschaft zur Entscheidung übergeben. Dieser wird entweder eine Obduktion anordnen oder den Toten für den Bestatter freigeben. „Das erfolgt in der Regel in wenigen Tagen“, sagt Jens Hoffmann.

Inzwischen bekommt das Team einen neuen Auftrag. Diesmal in Wolmirstedt. „Wir sind in der Regel mit zwei Fahrzeugen für Magdeburg, den Bördekreis und den Salzlandkreis zuständig. Ein Team ist im Harz“, sagt Hoffmann.

Entsprechend lang sind die Anfahrtswege. „Da können schnell 200 Kilometer pro Schicht zusammenkommen“, sagt Koch. Entsprechend schnell sind auch die Ressourcen erschöpft.

Hanno Schulz vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) kennt das Problem: „Wir sind leider bei den Kriminaldauerdiensten im Land sehr schlecht aufgestellt. Dabei ist genau dieser erste Angriff am Tatort extrem wichtig für den weiteren erfolgreichen Fortgang der Ermittlungen.“ Es sei nur der Eigeninitiative der Kriminalisten zu verdanken, dass es trotzdem oft noch zu sehr guten Ermittlungsergebnissen kommt. „Wir sind Anwälte der Opfer. Das haben viele noch als Hauptmotiv für ihren Beruf“, so Schulz. Der Landeschef des BDK fordert dringend den Ausbau des KDD. „Unsere Hoffnung liegt auf den Planungen der Projektgruppe 2020“, sagt er. Danach könnten in den dann vier geplanten Inspektionen jede mit einem Kriminaldauerdienst ausgerüstet werden. Das Innenministerium ist indes noch nicht so weit. Sprecher Stefan Brodtrück: „Inwieweit im Rahmen der Vorbereitung der künftigen Polizeistrukturreform Anpassungsbedarf gesehen wird, bleibt abzuwarten.“

Inzwischen rollt der Wagen der beiden Kriminalisten in die kleine Wolmirstedter Siedlung. Reinhard Drygas empfängt sie an der Haustür. Seine Mutter ist 87 Jahre alt und sollte Opfer von dreisten Versicherungsbetrügern werden. Sie war stutzig geworden, weil sie einen Anruf von ihrem angeblichen Versicherungsvertreter bekam. Doch die Seniorin schaltete schnell und rief ihre Versicherung an. „Die haben mir gesagt, dass das Betrüger sind“, erzählt sie den Beamten. Und eben jene Ganoven haben sich jetzt bei ihr angemeldet. So warten nun der aus Salzwedel extra nach Wolmirstedt gekommene Sohn und die Kriminalisten in Zivil auf die Betrüger.

„Das wäre schön, wenn wir denen jetzt das Handwerk legen könnten“, sagt Hoffmann. Nicht weil es dicke Fische wären, sondern die Masche gegenüber den Senioren besonders verwerflich ist.

Doch es zeigt sich zur verabredeten Zeit niemand. So rollt der Wagen der beiden Ermittler weiter nach Groß Rodensleben im Bördekreis. Dort stehen mehrere Lagerhallen in Flammen. Das zweite Team von Kerstin Peltzer und Volker Orlamünde ist bereits dort. An eine Spurensicherung ist noch längst nicht zu denken. Im Gegenteil. Die Feuerwehr zieht einen 300 Meter großen Absperr-Radius um die brennenden Gebäude. „Da kommen wir noch nicht rein“, sagt Peltzer. Sie brechen den Einsatz nach dem Aufnehmen der Zeugenaussagen ab und fahren zurück in die Dienststelle. Dort wartet schon der nächste Einsatz. Ein Einbruch in ein Einfamilienhaus. Den übernimmt aber die Spätschicht.