1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Vater sucht neue Eltern für fünf Töchter

Vor 100 Jahren Vater sucht neue Eltern für fünf Töchter

Seit Sommer 1914 tobte der Erste Weltkrieg. Im Juli 1918 schwand die Hoffnung der Menschen in Magdeburg und Umgebung auf Besserung.

Von Manfred Zander 29.07.2018, 11:05

Magdeburg l Der Monat begann mit einer bösen Überraschung für die Schulmädchen und Schuljungen. Die Ferien wurden wegen der Laubernte um zwei Wochen verschoben. Das teilte die Provinzial-Schulbehörde mit. Da die Ernte andauerte, blieb es ungewiss, ob es bei dieser einmaligen Verlängerung der Schulzeit bleiben würde. Am 19. Juli war es so weit. „Der erste Ferientag ist endlich angebrochen, sonnig und warm“, freute sich die Volkssstimme mit den Kindern in Stadt und Land. „Die Glücklichen gehen nun auf Reisen“, vermutete das Blatt, „die Arbeitsamen sammeln Laub und andere suchen Ferienfreuden, wo sie kein Geld kosten: an der Elbe, auf dem Anger oder im Schrebergarten des Vaters“.

Rechtzeitig zur Urlaubszeit waren die Walderholungsstätten des Vaterländischen Frauenvereins in Möser und im Magdeburger Fort II wieder geöffnet worden. Erwachsene zahlten für einen Tagesaufenthalt 1,50 Mark Verpflegungskosten, Kinder bis zu 12 Jahren 90 Pfennig. Auch die Reederei Stettin & Lüdecke hatte am 11. Juli ihre Dampferfahrten von Magdeburg nach Hohenwarthe und Niegripp wieder aufgenommen. Und im Magdeburger Zirkus Blumenfeld bot ein neues Varieté-Programm mit Daria Paini, dem Karten-Phänomen, dem Humoristen Max Falke, den 4 Allisens und anderen Künstlern Sommer-Unterhaltung.

Für kleines Geld luden die Badeanstalten. Wer wollte, konnte sich sogar gänzlich kostenfrei in Flüssen oder Seen tummeln. Das war aber auch gefährlich. Am 20. Juli ertrank in der Elbe bei Salbke der elfjährige Arno Krüger aus Berlin. Er hatte Verwandte in der Gaberlsbergerstraße besucht.

Es war nicht das einzige Badeunglück während der Ferien. „Warum tragen sich so viele Badeunfälle zu?, fragte die Volksstimme deshalb besorgt. Unter den Verunglückten würden sich „nicht selten schwimmkundige kräftige Kinder und ganz gesunde junge Leute“ befinden. Die Zeitung zitierte einen dänischen Arzt, der die häufigen Badeunfälle darauf zurückführte, dass die Badenden Wasser in die Luftröhre bekommen haben. Dadurch würden sie die Herrschaft über sich selbst verlieren. „Man halte deshalb den Mund möglichst fest geschlossen, während man schwimmt, und treibe dabei keinen Unsinn“, rät die Volksstimme den Badelustigen.

Mit einer ganz anderen Sorge befasste sich am 6. Juli der Städtetag der Provinz bei einer Tagung im halleschen Rathaus. Der Erfurter Bürgermeister Lüddeckens referierte. Die Wohnungsnot sei eine der größten Nachkriegsgefahren.

Besonders betroffen seien die Städte mit Rüstungsindustrie, also Magdeburg, Erfurt und Aschersleben. Schätzungsweise müssten in Magdeburg mindestens 3600 Wohnungen, in Erfurt 2500 Wohnungen gebaut werden. Der Behelfsvorschlag, größere Wohnungen zu zerlegen, wäre keine wirkliche Hilfe, „weil die gemeinsame Benutzung von Küche, Klosett usw. gar zu leicht Anlaß zu Mißhelligkeiten gibt“. Wichtiger sei „die entsprechenden Herrichtung von Dachgeschossen, Läden, Schuppen ... und die Erbauung von Wohnbaracken, die man aber besser nicht so, sondern Behelfsbauten oder ähnlich benennen“ sollte.

In Magdeburg gab es zu diesem Zeitpunkt 73.315 Wohnungen, 39.561 von ihnen waren Kleinwohnungen mit bis zu drei Räumen, einschließlich der Küche. Nur 90 Wohnungen, davon 60 Kleinwohnungen, standen leer. Die Stadtväter hatten sich der Wohnungsnot angenommen. Sie ließen in Schulen Kleinwohnungen, in der Röttgerstraße Notwohnungen und Behelfsbauten am Fort 1 bei Fermersleben errichten. Insgesamt wurden auf städtische Kosten 192 Kleinwohnungen gebaut, teilte der Magistrat im Juli mit.

Der Krieg verteuerte das Leben immer stärker. Am 3. Juli zitiert die Volksstimme das Statistische Amt. Danach benötigte eine sechsköpfige Familie im Sommer 1918 täglich 11,21 Mark allein für die Lebensmittel. Das entsprach in etwa dem wöchentlichen Durchschnittsverdienst von Frauen, der von Männern lag bei etwas über 32 Mark. In den letzten Friedensjahren hatten 4,55 Mark gereicht.

Ein anderes Übel, die Versorgungsnöte der Deutschen am Ende des vierten Kriegsjahres, blieb dabei unberücksichtigt. Im Juli 1918 waren sie größer geworden. „Die alte Ernte geht zur Neige, die neue ist noch nicht da“, begründete die Volksstimme die Entwicklung und nannte ein Beispiel: „In dieser Woche gab es in einer großen Zahl Verkaufsstellen überhaupt keine Kartoffeln.“

Wie hoffnungslos Menschen inzwischen in die Zukunft blickten, offenbarte ein Inserat, das Mitte des Monats in verschiedenen Magdeburger Zeitungen erschienen war: „Alleinstehender Mann möchte seine fünf Kinder, Mädchen, als eigen abgeben. Alter 5, 7, 10, 12 u. 13 Jahre. Offerten unter GR 101 an die Expedition Forstreuter Buckau“.

Ob diese Suche eines verzweifelten Vaters nach einem neuen Elternhaus für seine Kinder erfolgreich war, blieb unbekannt. Ohnehin verursachte es mehr Aufregung in Magdeburg, als die Einschmelzungspläne für das Bronzedenkmal des Bürgermeisters und Wissenschaftlers Otto von Guericke bekannt wurden. Eigentlich waren Werke von lokalgeschichtlichem Rang vom Einschmelzen ausgenommen. Nun fachte die Volksstimme die ohnehin vorhandene Empörung in der Stadt weiter an, indem sie auf die Schonung der Denkmale für Bismarck, Kaiser Friedrich und Kaiser Wilhelm I. hinwies. Ironisch bemerkte sie schließlich. „Was bedeutet auch Guericke für Magdeburg!“

Die Metall-Mobilmachungsstelle des Kriegsministeriums blieb hart. Sie wollte außer dem Artilleriedenkmal in der Friedrichsstadt, dem Siegesdenkmal in der Neustadt, und dem Standbild für Kaiser Friedrich den Bronze-Guericke einschmelzen. Immerhin hatte der Magistrat protestiert. Es wurde verhandelt.

Dann war der Juli zu Ende, und mit ihm das vierte Kriegsjahr. Auf der ersten Seite der Ausgabe vom 31. August unternahm Volksstimme-Chef Ernst Wiitmaack eine Bestandsaufnahme: „Der Krieg leerte die Werkstätten und Schreibstuben. Er riß Mann und Frau auseinander, führte die Väter von ihren Kindern, nahm den weißköpfigen Alten den Trost und die Stützen ihrer letzten Tage.“ Nach vorn war der Blick des Autoren wenig zuversichtlich: „Das Auge tastet Tag um Tag die Nachrichtenspalten der Zeitungen ab nach den Friedenszeichen, nach denen das Herz fiebert. Wieder nichts! Keine Aussicht, an der es sich aufrichten könnte. Nichts! Seit vier Jahren ...“