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Wohlfahrtsverband Caritas tagt in Magdeburg

In Magdeburg tagt die Caritas. Präsident Peter Neher spricht über die Identität der Ostdeutschen und den Aufstieg der AfD.

Von Alexander Walter 17.10.2017, 01:01

Volksstimme: Herr Neher, Ihre Delegiertenversammlung beginnt am Dienstag - am Internationalen Tag gegen Armut. Zufall, oder ist das Thema wieder aktueller geworden in Deutschland?

Peter Neher: Der Veranstaltungstermin ist tatsächlich Zufall. Armut ist aber ein Thema. Wir haben nach wie vor viele Menschen mit hohem Armutsrisiko. Für mich ist richtig ärgerlich, dass wir zum Beispiel seit Jahren über die Bekämpfung von Kinderarmut diskutieren und immer, wenn neue Zahlen veröffentlicht werden, ist die Empörung groß. Aber das politische Engagement ist dann leider nicht so hoch, wie es nötig wäre.

Was müsste man denn tun?

Zum einen dürfen die Bildungschancen von Kindern nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Die aktuelle Studie „Bildungstrends“ hat gerade erst wieder den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und dem Schulerfolg belegt. Dagegen kann man vorgehen, indem Kinder aus schwierigen Lebensverhältnissen in der Schule bereits frühzeitig unterstützt werden und nicht erst, wenn sie versetzungsgefährdet sind. Zweitens fordern wir als Caritas eine einkommensabhängige, eigenständige Kindergrundsicherung.

So etwas gibt es mit dem Kinderzuschlag bereits...

Ja, aber das Modell ist zu kompliziert. Der Kinderzuschlag soll das Abgleiten von Eltern mit geringem Einkommen in den Hartz-IV-Bezug verhindern. In der Praxis gibt es aber plötzliche Abbruchkanten, wenn der Lohn einen bestimmten Betrag übersteigt. Eltern, deren Einkommen nur wenige Euro über dem Anspruchsniveau liegt, verlieren so den Zuschlag und haben am Ende weniger in der Tasche als Familien unterhalb der Einkommensgrenze. Das eignet sich nicht als Präventionsmaßnahme gegen Kinderarmut.

Bei der Bundestagswahl haben die großen Parteien massiv verloren, die AfD hat hinzugewonnen. Ausdruck einer materiell gespaltenen Gesellschaft?

Hier muss man genauer hinschauen. Sicher spielt Angst vor Veränderung und sozialem Abstieg eine Rolle, in Extremen auch eine rechtsradikale Gesinnung – aber eben nicht nur. Für mich ist die AfD auch keinesfalls allein ein ostdeutsches Phänomen. Wir hatten auch in Bayern oder Baden-Württemberg AfD-Hochburgen und das nicht nur in Regionen, die sich als abgehängt erleben. Von daher steht das Ergebnis für eine Spaltung der Gesellschaft, aber die Linien verlaufen quer.

Viele Ostdeutsche fühlen sich im gemeinsamen Deutschland noch immer unverstanden. Was läuft da schief?

Während sich mit der Wende für die Westdeutschen nichts geändert hat, wurde das Lebensgefüge vieler Ostdeutscher komplett umgekrempelt. Das wird oft nicht gesehen und ich habe großen Respekt vor den Menschen, welche die Wende erlebt und erstritten haben. Auf der anderen Seite hat das jahrzehntelange Leben in einer totalitären Gesellschaft bei manchem vielleicht auch zu Erwartungen geführt, die ein demokratischer Rechtsstaat nicht erfüllen kann und will. Freiheit ist Gabe, aber eben auch Aufgabe.

Ostdeutsche tendieren also eher zu einer passiven Nehmermentalität?

Wenn Menschen jahrzehntelang eigene Ideen gar nicht erst entwickeln dürfen, weil ja alles der Staat organisiert, kann man ihnen hinterher nicht vorwerfen, dass sie alles vom Staat erwarten.

Die Kirchen haben allein 2016 mehr als eine halbe Million Mitglieder verloren. Ist die Erosion des Glaubens auch Ursache für das Erstarken von Populisten?

Ich habe den Eindruck, dass Menschen nach wie vor große Sehnsucht nach Sinn und Religiosität haben. Das ist auch einer der Gründe dafür, dass wir bei unserer Tagung in Magdeburg anlässlich des Reformationsgedenkens eine Diskussion zum Thema „Christ sein in säkularer Gesellschaft“ führen werden. Damit wollen wir klar machen, welche Kraft im Glauben liegt. Jenseits aller Herausforderungen, die wir auch als Kirche mit der eigenen Vergangenheit und mit Schuld zu führen haben, ist das christliche Selbstverständnis, das den Dienst am Menschen in den Mittelpunkt stellt, Leitbild für uns.

Die christlichen Parteien CDU und CSU habe sich intern auf eine flexible Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr geeinigt. Für die christliche Caritas ein gangbarer Weg?

Nein. Und das ist nicht nur ein Thema der Caritas mit ihrem christlichen Selbstverständnis, sondern da geht es um geltendes Recht. Kein Mensch, der vor Folter, Gewalt und Tod flieht, darf abgewiesen werden. So steht es natürlich auch im Papier von CDU/CSU. Gleichzeitig steht da diese völlig aus der Luft gegriffene Zahl. Das ist widersprüchlich und dem Thema nicht angemessen.

Trotzdem muss man über die Steuerung von Zuwanderung reden können...

Das Grundgesetz kennt beim Asyl keine Obergrenze. Es legt entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention klare Regeln fest, wann Menschen Anspruch auf Schutz haben. 

Wie kann Zuwanderung dann gesteuert werden?

Man muss klar unterscheiden zwischen Menschen, die wegen Gefahren für Leib und Leben fliehen und denen, die aus wirtschaftlicher Not heraus zu uns kommen. Für die erste Gruppe ist das Asylrecht da. Für die zweite brauchen wir ein Einwanderungsgesetz. Und da ist es legitim, die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt zu steuern. Für uns ist beispielsweise eine temporäre Zuwanderung denkbar, bei der Menschen mit niedrigem Abschluss eine Ausbildung bei uns abschließen, um dann in ihr Land zurückzukehren. Nicht in unserem Interesse sein kann dagegen ein einseitiges Abwerben der klügsten Köpfe in den Herkunftsländern. Das wäre ein kolonialistisches Denken und Verhalten.

Die Caritas hat die Kampagne „Zusammen sind wir Heimat“ gestartet, die für Vielfalt wirbt. Was soll sie bringen?

Wir wollen den Begriff Heimat bewusst nicht denen überlassen, die darunter Blut und Boden verstehen. Heimat hat viel mit Offenheit und Vielfalt in der Gesellschaft zu tun. Heimat lebt nicht von Abgrenzung. Die Kampagne möchte die Chancen zeigen, die im Miteinander von Menschen liegen. Natürlich gehört dazu der Respekt vor den Gepflogenheiten derer, die hier groß geworden sind. Genauso aber auch der Respekt vor denen, die unfreiwillig heimatlos geworden sind.

Ist die Veränderung von Heimat etwas, das man den Menschen zumuten muss?

Heimat verändert sich zwangsläufig immer wieder. Wer wüsste das besser als die Menschen in Ostdeutschland oder damals die Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir werden Heimat jedenfalls nicht erhalten, wenn wir nur am Bestehenden festhalten, denn Heimat ist etwas zutiefst Dynamisches. Man sollte die Menschen ermutigen und dabei unterstützen, sich diesen Veränderungsprozessen zu stellen.