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Wie der in Hamburg geborene Volksstimme-Redakteur Dirk Rösler das WM-Vorrundenspiel zwischen der BRD und der DDR in seiner Heimatstadt erlebte Die \'74er Schmach im Volksparkstadion

04.06.2013, 01:17

"Warum wir heute gewinnen", titelte die Bild-Zeitung an jenem 22. Juni 1974. Denn: Das qualitative Übergewicht bei den einzelnen Spielern liege mit 7:4 bei den Bundesdeutschen. Das Wickert-Institut ermittelte, dass nur 17 Prozent der befragten Bundesbürger der DDR einen Sieg zutrauten. Vom großen "Bruderkampf" oder "Bruderduell" war auch die Rede.

Das Hamburger Abendblatt titelte eher sachlich: "Auf dieses Spiel haben die Fußball-Fans lange gewartet". Damit war eigentlich an jenem Sonnabend in der Hansestadt alles auf Erfolg programmiert.

Nach zwei eher mäßigen WM-Spielen gegen Chile (1:0) und Australien (3:0) sollte nun gegen die "DDR" der Gruppensieg leicht zu schaffen sein. Die Bundesrepublik, strahlender amtierender Europameister, konnte nur als Sieger gegen die Deutschen aus dem eingemauerten Osten hervorgehen. Alles andere war nicht vorstellbar.

Die Spannung war dennoch enorm. 62 350 Zuschauer waren im Volksparkstadion. Darunter 1500 "DDR-Touristen", wie Fernseh-Reporter Heinz-Florian Oertel seine Landsleute bezeichnete. Ein Tribünenplatz kostete 30 Mark, ein Stehplatz 10 Mark.

Ich saß, wie viele Millionen, daheim am Fernseher. So wie die Temperatur, die auf unter 20 Grad beim Anstoß um 19.30 Uhr gefallen war, entpuppte sich schließlich auch das erste und einzige deutsch-deutsche fußballerische Aufeinandertreffen als frostig.

Die erste Halbzeit war ein tolles Spiel. Es lief hin und her. Beide Seiten hatten ihre Chancen. Der "Bomber der Nation", Gerd Müller, traf in der 39. Minute aus der Drehung den Pfosten. Doch die "Amateure" in Blau-Weiß wurden in der zweiten Halbzeit immer gefährlicher. Die Schwarz-Weißen bauten sichtlich ab. Im Stadion wurde es ruhiger. Pfiffe kamen auf. Erste Schlachtrufe "...7, 8, 9, 10, Klasse" waren unüberhörbar. Das Spiel kippte. Selbst der vom Publikum lauthals geforderte Superstar Günter Netzer, der damals bei Real Madrid sein Geld verdiente, brachte nichts. Seine Pässe landeten seit der 69. Minute meistens beim Gegner. Hammer und Zirkel waren auf dem Vormarsch. Die "Deutschland"-Rufe wurden leiser, die "D-D-R"-Anfeuerungen immer lauter.

Als Jürgen Sparwasser in der 77. Minute (um 21.03 Uhr) Verteidiger Horst-Dieter Höttges austrickste, auch Berti Vogts nichts mehr retten konnte und der Magdeburger das goldene Tor machte, war das Debakel besiegelt. Der Schuss hatte gesessen und erschüttert. Mehr als 60 000 schwiegen. Ich war ebenso entsetzt wie sprachlos.Die 1500 "DDR-Touristen" sangen fröhlich "Oh, das ist das 1:0". Und nach dem Abpfiff: "Hoch soll\'n sie leben, hoch soll\'n sie leben, dreimal hoch." Der "Klassenfeind" hatte verloren, oder gesiegt; so, wie man es sehen wollte.

Das Volksparkstadion hatte seinen Nimbus verloren. Neun Siege, drei Unentschieden und nur eine Niederlage gegen Weltmeister Brasilien (1:2; 1963) hatte es seit 1950 hier gegeben. Hamburg war fortan kein gutes Pflaster für Länderspiele. Vier weitere Niederlagen und nur zwei Siege für die Bundesdeutschen folgten bis zur Wende. Erst seit dem Jahr 2000 hat Hamburg wieder eine reine Weste: Die neue Arena, auf dem Grund des alten Volksparkstadions um 90 Grad gedreht, steht bei Länderspielen für fünf Siege und ein Remis. Die 1974er-Schmach ist aus hanseatischer Sicht Geschichte.