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Ruder-Olympiasieger Willms Der Fänger des Goldes

Vor allem Barcelona und Atlanta werden aus Sicht des SC Magdeburg immer mit dem Namen André Willms verbunden bleiben. Jeweils eine Goldmedaille brachte er von den ersten beiden seiner vier Olympia-Teilnahmen mit. Er wurde außerdem fünfmal Weltmeister.

Von Daniel Hübner 20.06.2015, 03:12

Magdeburg l Im Winter 2005 wurde André Willms ein letztes Mal schwer ums Sportlerherz. Der Himmel über Magdeburg war grau, die Temperaturen erreichten den Gefrierpunkt, "richtig schlechtes Wetter", erzählt er. Willms schaute aus dem Bürofenster und erinnerte sich an die Trainingslager im italienischen Sabaudia, die der Deutsche Ruderverband (DRV) immer in den kalten Monaten abhält. Dort, wo sich Athleten am Mittelmeerstrand mit Kraft- und Ausdauerübungen quälen, wo sie nach der Arbeit die Füße hochlegen und der Sonne entgegenblinzeln. So, wie es Willms jahrelang getan hatte.

Dieser Winter 2005 war der erste nach seinem Karriereende, mit 32 Jahren hatte er für immer und ewig die Skulls verstaut: "Das war eigentlich kein Alter, aber ich gehörte 14 Jahre zur Nationalmannschaft, das hatten andere nicht. Und es war eine schöne und spannende Zeit", sagt der gebürtige Burger über seine Ära, die im September 1986 beim SCM begann. In der er bis zum Schluss von Heimtrainer Roland Oesemann, "meiner größten Konstante", begleitet wurde. In der er dem SCM auch nach der Wende treu geblieben ist ("Ich habe mich immer gut unterstützt gefühlt"), während andere Ruderer ihr Glück in den alten Bundesländern suchten.

Es ist eine Ära, die man rückwärts erzählen muss, um mit dem schönsten Erfolg zu enden. Das Ende selbst war nämlich nicht schön. "Das war eine schlechte Erfahrung, die man wohl mal machen muss", erklärt Willms. Er hätte gern darauf verzichtet.

Eines muss man seiner Olympia-Geschichte, die sich ausschließlich im Doppelvierer zugetragen hat, vorausschicken: Sie ist nicht so traurig, wie sie klingen mag. Nur ist Willms heute 42 Jahre alt, er erzählt sie mit seinem professionellen Blick als SCM-Vizepräsident für Leistungssport, und er erzählt sie mit seinem gehörigen Abstand als Teamleiter für Sportstätten und -förderung bei der Stadt Magdeburg.

"Wir hatten als Mannschaft versagt."

2004 also, Athen, "eine enorme Enttäuschung". Seine Karriere endete mit Platz fünf bei den Olympischen Spielen, mit opulenten acht Sekunden Rückstand auf eine Medaille. "Wir hatten als Mannschaft versagt", betont er. Und so sollte er abtreten? "Mir ging vieles durch den Kopf", erinnert er sich. Zumindest im ersten Moment. Im zweiten stürzte er sich in die Arbeit als Verwaltungs- fachangestellter bei der Stadt. Den Sprung ins zweite Leben hatte er längst vorbereitet. Und deshalb "hatte ich eigentlich keine Zeit zum Nachdenken".

Willms hatte gerade im Jahr vor Athen angefangen, noch einmal alles aufzusaugen, was sein Leben seit seinem Sieg im Einer bei der Junioren-Weltmeisterschaft 1990 bestimmt und was er genossen hatte, bevor es tägliche Routine wurde. Weil er 2002 im Doppelzweier auch noch Weltmeister wurde mit Andreas Hajek (Halle), hatte er überhaupt die beiden Jahre bis Athen drangehängt: "Damit hatte ich es mir noch einmal bewiesen. Außerdem kannte ich den Ablauf, die Automatismen. Aber es war klar, dass nach Athen endgültig Schluss sein wird. Ich wollte immer selbst entscheiden, wann ich gehe, bevor ich gegangen werde."

Den Gedanken ans Karriereende trug er bereits nach Sydney, nach seinen dritten Sommerspielen, bei denen er im Vierer Bronze holte. Auch das "war für uns eine enorme Enttäuschung". Damals zumindest. "Aus heutiger Sicht war der dritte Platz eher schmeichelhaft."

Der DRV hatte aus jenen Spielen 2000 in Australien offenbar nichts gelernt. Wie vier Jahre später in Athen stand das Boot in seiner Besetzung frühzeitig fest, wie vier Jahre später gewann der Vierer in der vorolympischen Saison die WM, wie vier Jahre später "war dieser Titel eigentlich ein Geschenk, weil wir eine vorteilhafte Bahn hatten, aber individuell nicht mehr so stark waren. Man hatte nie das Gefühl, wir reißen die Welt ein." Bis zum olympischen Finale wurde zudem am Material "herumgedoktert, auch das war nicht förderlich für das Selbstbewusstsein".

Selbstbewusstsein, und zwar meterhohes, hatten Willms und seine Crew 1996: Damals war das Boot als großerFavorit zu den Spielen nach Atlanta gefahren, damals "konnten wir uns nur selbst schlagen", nachdem das Team in der Saison alles gewonnen hatte. Einerseits. Andererseits "hatten wir auch nur mit uns selbst zu tun". Sechs quälend lange Wochen dauerte die Vorbereitung auf die Spiele in den USA, abgehalten wurde sie in Mexiko City, wo Lagerkoller garantiert war, "weil wir alle aufeinander angewiesen waren", und "wo es Reibereien gab", weil der Druck auf den acht Schultern schwerer lastete als der Himalaja.

"Wir waren Chaoten und Gleichgesinnte."

Willms war längst Profi, mit 23. Es zählte nur der Erfolg. "Uns war klar: Wir mussten keine Kumpel sein, die Zweckgemeinschaft musste es bringen." Sie brachte es: Gold, das zweite olympische für Willms. "Natürlich hat mich das mit Stolz erfüllt", sagt er. Aber es war nicht dieselbe Freude, die er 1992 empfunden hatte - nach seinen ersten Spielen, seinem ersten Gold, damals in Barcelona (Spanien). Als die Rabauken los waren.

So bezeichnete sie Richard Wecke, der die vier Männer bei ihrem Einstieg in die Elite 1991 für den DRV betreute, und die ihn "um den Verstand brachten", wie der Coach einst erklärte. "Wir waren eine echte Chaotentruppe, haben viel Mist gebaut", sagt Willms lachend. Womöglich aus Respekt gegenüber dem jugendlichen Leser hat er auf Details verzichtet.

Diese "Chaoten und Gleichgesinnten" namens Michael Steinbach, Stephan Volkert, Hajek und Willms waren die Fänger des Goldes in Spanien, was einer Sensation gleichkam: "Der Überraschungsmoment war natürlich riesig. Ich war ja überhaupt happy, dabei zu sein", betont Willms. Es war der schönste Erfolg des 2,01-Meter-Hünen in seiner glorreichen Karriere, die solch ein Ende in Athen nicht verdient hatte.

Trotzdem war die letzte Enttäuschung nicht stark genug. Willms: "Wenn ich heute 18 wäre, würde ich nichts anders machen." Und deshalb kann er seinem Sohn mit ruhigem Gewissen sagen: "Du machst alles richtig." Elf Jahre nach Willms` letzten Spielen schickt sich Philipp-André Syring nämlich an, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Der 18-Jährige ist ebenso Schützling von Trainer Oesemann, er wird Ende Juli den Einer bei der U-23-WM in Plowdiw (Bulgarien) fahren. "Du hast alle Zeit der Welt", hat ihm Willms wohl oft gesagt. Ausgerechnet jener Mann also, der im zarten Alter von 19 Jahren erstmals Olympiasieger wurde.