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Eine Geschichte über den ersten Kontakt, Vorurteile und einen tollen Sportler mit dem Tourette-Syndrom Ein Schluckauf der Synapsen

Von Thomas Koepke 01.11.2014, 02:19

Ich sitze während eines Vortrages ganz entspannt aber auch aufmerksam und interessiert auf meinem Stuhl, lausche des Redners Ausführungen, mache wichtige Notizen und versuche nichts zu verpassen. Doch dann passiert es einfach.

Tangermünde l Plötzlich stört ein ungebetener Gast meine Konzentration - ein Schluckauf. "Halt kurz die Luft an", oder "trink doch etwas". Die sicher gut gemeinten, mir flüsternd entgegengebrachten Ratschläge meiner Seminar-Nachbarn reißen nicht ab. Es hilft nichts. Nach dem gefühlten 100. "Hicks" verlasse ich wütend auf mich und den blöden Schluckauf den Saal. Nicht, weil ich den Redner stören könnte, sondern weil es mir peinlich ist. Man schaute mich an und kurz danach wieder weg, es war ein befremdliches Gefühl. Ich bilde mir ein, unverständliche und sogar abwertende Reaktionen beobachtet zu haben. Und eigentlich hatte ich diese Situation, die bestimmt schon über fünf Jahre zurückliegt, längst wieder vergessen. Doch im Oktober dieses Jahres holte mich die Erinnerung ein, traf mich eiskalt wie ein Blitz. Auslöser war auch ein Schluckauf, aber ein Schluckauf der Synapsen. Diesmal bin aber nicht ich der Besuchte, sondern der Hingucker und Wiederwegschauer.

130 Kilogramm Muskeln auf 180 Zentimetern

Ronnie Eberhart kommt aus der Schweiz, ist ein Kerl wie ein Baum. Sein Erscheinungsbild beeindruckt. Knapp 130 Kilogramm Muskeln verteilt auf 180 Zentimeter Körpergröße veranlassen mich nicht nur zum Staunen, sondern wecken auch Interesse. Gesehen hab ich diesen Mann zum ersten Mal im Rahmen des Benefizwettkampfes "Stark fürs Leben" im Oktober in Tangermünde. Gleich vorn rechts, direkt vor der Heberbühne des schönen Königin-Luise-Saals in Tangermünde, sitzt das Kraftpaket und verleibt sich erstmal einen Teller voller Kohlenhydrate ein. Ich erkenne unschwer einen Teilnehmer dieser Veranstaltung, einen der ganz schweren Jungs, der meiner Meinung nach nur in der Gewichtsklasse plus 120 Kilogramm starten wird.

Nun ja, ich schaue mich ersteinmal ein wenig um, immerhin muss ich ja meinen Job erledigen und die Leserinnen und Leser wenig später mit Hintergrundinformationen, schicken Bildern und Stimmen von dieser Veranstaltung versorgen. Gesagt, getan. Ich schaue zum Wiegen, werfe auch noch einen Blick vor die Tür, ob noch weitere Teilnehmer anreisen und bleibe schließlich vor dem Warmmachraum stehen. Ein kurzer Blick hinein zeigt mir, dass sich noch kein Teilnehmer auf den Wettkampf vorbereitet. Ok, weiter geht meine Runde. Ich begebe mich zurück in den Saal und prompt kommt mir diese imposante Erscheinung Namens Ronnie Eberhart entgegen. Obwohl er viel breiter und stärker ist als ich, macht er mir Platz in dem für uns beide zu engen Flur. Er weicht einige Zentimeter nach links, damit ich meinen Weg unbehelligt fortsetzen kann. Ich bin also der LKW und er der Kleinwagen. Als wir nur noch einen knappen Meter voneinander entfernt sind, passiert es. Mein Gegenüber ruft etwas sehr laut in meine Richtung, ohne dass wir Blickkontakt haben. Es hörte sich an wie ein mir durchaus bekanntes Schimpfwort. Es folgte ein "Rotzer" in Richtung Dielenboden. Natürlich habe ich das aus dem Augenwinkel beobachtet und war schockiert. Mittlerweile vollgepumpt mit einem mir selbst verabreichten Adrenalinschub der letzten Sekunde, ging ich einfach weiter, ließ mir mein blankes Entsetzen über das soeben registrierte nicht anmerken. "Was war das denn gerade?", frage ich mich selbst. "Kann der sich nicht benehmen?"

Schütze: "Das macht der nicht mit Absicht"

Spätestens nach diesem Erlebnis behielt ich ihn im Auge. Immer wieder benutzte ich meine Kamera, um heimliche Beobachtungen anzustellen. Ok, ich stelle ziemlich schnell fest, dass sich dieser Flegel, der er mittlerweile in meinen Augen war, erneut so benimmt.

Der Höhepunkt ist für mich erreicht, als Sascha Weise als Geschäftsführer der Sachsen-Anhaltischen Krebsgesellschaft einen Vortrag zur Vorsorge hält und dieser eine Kraftsportler mit seinen lauten Zwischenrufen immer wieder stört. Allerdings beobachte ich mittlerweile noch andere Teilnehmer und Zuschauer des Wettkampfes, die gestikulierend mit Unverständnis reagieren. Allerdings hinterfrage ich die ganze Sache mittlerweile kritischer. "Warum macht er das eigentlich"?

Und die Antwort darauf kam schon innerhalb der nächsten Minute. Sie war so brachial ehrlich, direkt und dennoch mit einer geerdeten Normalität gegeben worden von Moderator Enrico Schütze. Und sie holte mich runter, runter von meinem Vorurteil, das ich mir längst gebildet hatte, ganz tief runter von meiner Naivität und Unwissenheit. "Wenn hier immer einer so laut rumbrüllt und rumzuckt, dann ist das Ronnie Eberhart. Der macht das nicht mit Absicht, weil er hat das Tourette-Syndrom. Er ist nämlich ein ganz feiner Kerl und kann da nichts dafür", so Schütze.

Bähm! Das hat gesessen. Ich benötige einige Zeit, um meine wirren Gedanken zu ordnen. "So ein Mist", denke ich, "jetzt hast du diesen Kerl einfach verurteilt, weil er sich anders benimmt als normal". Und dennoch, es ist mein erster direkter Kontakt mit dieser Krankheit. Mittlerweile fühle ich mich auch schlecht. Schlecht wegen meiner Gedanken, mit denen ich Ronnie Eberhart verurteilt hatte - vorverurteilt.

Jetzt war ich natürlich gefesselt von diesem Menschen, wollte mehr wissen, wollte beobachten, neu einordnen und vor allem akzeptieren und respektieren. Ich beobachte seine Konzentrationsphasen, sehe wie schwierig es für ihn ist, sich mit dem Magnesia-Stein die Hände zu pudern. Sehe auch wie er immer wieder minutenlang vor einem Versuch unter einem Handtuch verschwindet, die Hände kreuzt. Sehe wie sich seine Freundin immer wieder zu ihm neigt, ihre Hand auf seine Schultern legt, um Ruhe auszustrahlen. Sehe auch, wie er nach seinem Aufruf geradlinig und absolut fokussiert auf die Heberbühne kommt. "Wahnsinn", denke ich, "wirklich absoluter Wahnsinn".

Wie ist so etwas möglich? Wie kann man mit solch einer Krankheit, so einen Spitzensport betreiben? Wie gestaltet sich das Leben neben dem Sport, der Beruf, das Privatleben? Mein Wissensdurst wird immer größer. Später erfahre ich, dass die Konzentrationsfähigkeit eine seiner absoluten Stärken ist. Das kann ich nun selbst zu einhundert Prozent bestätigen.

Eberhart: Aufklärung ist immer gut"

Eberhart selbst hat bereits nun auch schon seinen dritten Versuch erfolgreich absolviert. 190 Kilogramm stehen im Buch. Für ihn ist diese Last jedoch keine große Sache. Aufgrund eines erst kürzlich auskurierten Trizepsabrisses war noch nicht mehr möglich. Das geht eigentlich weit über 200er Marke hinaus. Doch Eberhart ist zufrieden mit der Leistung. Der Wettkampf neigt sich dem Ende, alle Entscheidungen sind gefallen, die Sieger geehrt. Doch eine Auszeichnung steht noch aus. Der Schweizer wird erneut auf die Bühne gerufen und unter tosendem Beifall aller zum Ehrenbotschafter des Sports ernannt. Dennoch fehlt mir irgendwie der Mut, diesen Athleten anzusprechen, offen auf ihn zuzugehen, ihn um ein kurzes Interview zu bitten. Ich fuhr zum nächsten Termin, doch nicht nur während der Fahrt und auch Stunden und Tage später ließ mich diese Geschichte nicht los. Egal, sagte ich mir drei Tage später. Ich aktivierte die Facebook-Suche und nahm Kontakt auf. In meiner kurzen Nachricht mit respektvollen Worten bitte ich Ronnie Eberhart um ein kurzes Gespräch. Noch ein kleines Bildchen von allen Teilnehmern des Wettkampfes als Anhang mit dazu und nach einigem Zögern - Enter. Die Nachricht war raus, ich hatte mich getraut. "Hey, vielen Dank für das Bild. Klar, können wir machen, Aufklärung ist immer gut". Ich glaube, es dauerte keine zwei Sunden, da hatte Eberhart geantwortet, für ein kleines Gespräch zugesagt. "Cool", denke ich. "Ich darf mehr erfahren".

Der mittlerweile 39-Jährige verrät mir, dass er sich schon seit einiger Zeit mit diesen Tics und der Krankheit auseinandersetzen muss. "Damit habe ich schon recht lange zu tun. Das hat so in meiner Pubertät angefangen. Ich denke, das hat mit meiner Kindheit zu tun", so der mehrfache Schweizer Meister. "Ruhe, es ist die Ruhe im privaten Bereich, die ich brauche". Und die hat er gefunden. Er lebt in einer festen Partnerschaft, hat sich, nachdem er einige Jobs durch seine Krankheit verloren hatte, selbstständig gemacht und ist Inhaber eines Fitness-Studios in St. Gallen. Auf die Frage, wie er Beruf, Sport und Krankheit miteinander vereinbart, kommt eine kurze, aber prägnante Antwort: "Ich kämpfe". Das sagt alles, lässt Eberhart authentisch und geradlinig wirken. Kämpfen musste der Schweizer schon immer, auch als er tief im Dopingsumpf steckte. Doch diese Zeiten sind vorbei. Ein sauberer Sport ist für ihn wichtig. Und natürlich der Kampf gegen die Krankheit. "Menschen, die komisch reagieren, weil sie nicht wissen, was mit mir los ist, ignoriere ich. Dennoch bin ich schon innerlich verletzt, wenn ich das mitbekomme. Aber sowas macht mich nur noch stärker", so der Eidgenosse. "Es wäre natürlich schön, dass auch die Menschen offener damit umgehen würden, aber die meisten kommen damit klar. Es könnte schlimmer sein", ergänzt er.

Und Ronnie Eberhart hat sich für die Zukunft ehrgeizige Ziele gesetzt. Aktiv und offensiv geht er mit seinem Tourette-Syndrom, das er selbst als "Schluckauf der Synapsen" bezeichnet, um, dreht Videos, die aufklären, motivieren und wachrütteln sollen. "Sportlich soll es auch weiter vorangehen. In der Beuge strebe ich 305 Kilogramm an, und auf der Bank sollen die 200 Kilogramm bald wieder kommen", so der 39-Jährige, dessen Vorbilder Arnold Schwarzenegger, Ed Coen, Kirk Karowski und Chad Aiks sind.

"Stark fürs Leben" ist also auch für ihn Programm. Seine Ernennung zum Ehrenbotschafter macht ihn stolz. "Das ist eine absolut tolle Sache. Ich werde ab und an Aktionen starten, um zu helfen und im nächsten Jahr natürlich wieder dabei sein in Tangermünde", so Eberhart.

Und auch ich werde voraussichtlich wieder mit dabei sein, nicht nur, weil ich beruflich eingeteilt bin, nein. Auch, um Ronnie Eberhart wieder zu treffen, ihm die Hand zu schütteln, ihm in die Augen zu schauen und Entschuldigung zu sagen. Entschuldigung für meine Vorurteile. Und sollte mich bis dahin wieder einmal ein Schluckauf ereilen, werde ich innerlich lächeln und mich an die Begegnung mit dem starken Mann aus der Schweiz erinnern.