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Serie "60 Jahre SCM" "Ich habe diese Strecke gehasst"

Als Dagmar Käsling gewann sie bei den Olympischen Spielen 1972 in München die Goldmedaille mit der 4x400-Meter-Staffel. Wenige Tage später heiratete sie den SCM-Leichtathleten Gerhard Lühnenschloß. Bis zu ihrem Ruhestand 2012 war die gebürtige Magdeburgerin Dozentin an der Otto-von-Guericke-Universität.

Von Klaus Renner 30.05.2015, 03:29

Magdeburg l War Dagmar Käsling-Lühnenschloß (68) womöglich nur deshalb so schnell über die Stadionrunde, weil sie 43 Jahre nach ihrem grandiosen Olympiasieg mit der 4x400-Meter-Staffel der DDR im Volksstimme-Gespräch gestand: "Ich habe diese Strecke gehasst, hatte sogar Angst vor dem langen Lauf. Denn eins steht fest: Bist du gut drauf, kommt der Hammer nach 250 Metern, wenn nicht, ist schon nach 100 Metern Feierabend."

Die in Magdeburg geborene und aufgewachsene spätere Professorin an der Otto-von-Guericke-Universität hat es dennoch erfolgreich geschafft, diesen Hass und die Angst vor den 400 Metern zu überwinden. Nicht von ungefähr ziert auch ihr Foto die "Hall of Fame" des SCM in der Leichtathletik-Halle gleich neben der MDCC-Arena.

Im zarten Alter von sieben Jahren als Turnerin bei Post Magdeburg gestartet, geriet die kleine Dagmar erstmals mit ihren Eltern in Konflikt. Ihr sportlich begeisterter Vater bestärkte die vielseitig begabte Tochter in ihrem Wunsch, an die Kinder- und Jugendsportschule (KJS) zu wechseln. Die Mutter war dagegen. Erst das Versprechen, an der KJS immer fleißig Milch zu trinken, brachte ihr die Zustimmung beider Elternteile ein - mit Erfolg, wie sich später herausstellen sollte. So wie sich die Sektion Leichtathletik des SCM in den 70er Jahren entwickelte, verlief auch die Karriere von Dagmar Käsling-Lühnenschloß, die sich noch heute ihrer Vorbilder im eigenen Verein, wie Rudi Langer, Renate Kempf und Giselher Beyme erinnert.

Die Eignungstests im Schwimmen, Turnen und leichtathletischem Dreikampf mit Bravour bestanden, waren Vertreter aller drei Sportarten an Dagmar interessiert. Sie entschied sich aber für die Leichtathleten von Einheit Pädagogik, auch wenn sie bemängelte: "Die Sportbekleidung der Leichtathleten war gewöhnungsbedürftig." Nachdem sie sich dann aber beim Gerätturnen das Schlüsselbein gebrochen hatte, war es für ihren späteren langjährigen Trainer Willi Olfert ein Leichtes, "mit Unterstützung so hervorragender Sportlehrer und Trainer wie z. B. Peter Bernhardt, René Martinek, Brunhilde Preuß, Gerhard Feikert, Günther Radloff und Werner Beinroth", Dagmar Käsling 1958 mit elf Jahren doch endgültig für die Leichtathletik zu begeistern - allerdings zunächst als Mehrkämpferin. Sie gewann die zentrale Kinder- und Jugendspartakiade der DDR und schaffte es in die Nachwuchs-Auswahl. "Ich war aber zu schmächtig und hatte große Probleme, die Kugel möglichst weit zu stoßen", erinnert sie sich heute.

Aus dem Kalten in die Staffel

1970 dann der Wechsel in eine hochleistungsfähige Trainingsgruppe mit Annelie Ehrhardt (Olympiasiegerin 1972), Waltraud Dietsch, Benno Stops, Jürgen Ludewig und ihrem späteren Ehemann Gerhard Lühnenschloß, die alle bereits der Jugend-Auswahl angehörten. Klaus Wübbenhorst plante und leitete von da an die Übungsstunden. Und das unter recht schwierigen Verhältnissen. Denn Dagmar Käsling war kein Elitekader mehr, studierte an der Magdeburger Außenstelle der DHfK, arbeitete als Lehrerin an der Magdeburger Mehring-Schule und konnte dadurch nur abends trainieren. Der damalige SCM-Cheftrainer Günter Wenke hatte ihr schon damals die 400-Meter-Distanz zugedacht, doch er erhielt die ängstliche Antwort: "Alles, nur das nicht." Schließlich war es dann Klaus Wübbenhorst, der seinen Schützling 1971 für einen Start bei den DDR-Meisterschaften über die Stadionrunde meldete. "Aus dem Kalten" wurde sie Fünfte. Nach Platz drei bei den DDR-Meisterschaften 1972 führte schließlich auch bei der Formierung der Olympiastaffel kein Weg mehr an der Magdeburgerin vorbei. Auch über die Einzelstrecke bei Olympia war Dagmar Käsling gemeldet.

"So hart wie vor Olympia in München habe ich nie wieder im Leben trainiert. Ich bin nach Hause gekommen und beim Abendbrot eingeschlafen", berichtet sie über die außerordentliche Belastung vor dem Gewinn der Goldmedaille. "Ich lief bei den Olympischen Spielen auf Bahn eins. Das hatte den Nachteil, dass ich alle anderen scheinbar weit vor mir hatte und kam sogar als Letzte auf die Zielgerade", erinnert sich Dagmar Lühnenschloß an ihren Einzelstart über die Stadionrunde, bei dem sie Siebente wurde. Ihre Staffelgefährtinnen Monika Zehrt (Platz 1) und Helga Seidler (Platz vier) kamen vor ihr ins Ziel.

Dagmar Käsling, Rita Kühne, Helga Seidler und Monika Zehrt machten schließlich am 10. September im Münchner Olympiastadion in einem begeisternden Rennen das Staffelgold perfekt. Schon nach dem Halbfinale, als die DDR-Staffel nur 6/100 Sekunden über dem Weltrekord geblieben war, kehrte auch bei Dagmar Käsling die Ruhe ein: "Ich hatte auf einmal nicht mehr so viel Angst vor dem Lauf." Die Anspannung löste sich schließlich im unbeschreiblichen Jubel - am Jahresende wurde die Frauen-Staffel sogar zur Mannschaft des Jahres 1972 in der DDR gewählt. In Berlin gab`s den Vaterländischen Verdienstorden in Silber.

Dozentin und Professorin

1974 hängte Dagmar Lühnenschloß - nach Olympia war die Hochzeit mit SCM-Sprinter Gerhard Lühnenschloß - ihre Spikes an den berühmten Nagel. "Weil ich Lehrerin bleiben wollte, habe ich an der Pädagogischen Hochschule (PH) Potsdam von 1975 bis 1978 Deutsch als Zweitfach belegt", so die spätere Hochschul-Lehrerin, dem sich von 1977 bis 1983 die Aspirantur bei Professor Günter Thieß an der PH Magdeburg anschloss. Von 1984 bis zu ihrem Ausscheiden 2012 (Professur 1996) war Dagmar Lühnenschloß als Dozentin an der PH bzw. der Uni Magdeburg tätig.

Das Thema Doping klammert sie nicht aus, stellt aber fest: "Die Anerkennung sportlicher Höchstleistungen ist durch die Dopingproblematik bis heute umstritten."