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Profiboxen Der letzte Kämpfer

Robert Stieglitz (35) kehrt am 12. November in die Getec-Arena zurück. Er kämpft als „letzter Kämpfer“ gegen Europameister Mehdi Amar (34).

Von Janette Beck 09.11.2016, 00:01

Magdeburg l Im Profi-Boxen wird seit jeher nicht gekleckert, sondern geklotzt. Vor allem, wenn es darum geht, einen großen Titelkampf im Vorfeld zu promoten, geizen die Macher nicht mit Superlativen oder Synonymen. Da wird das jeweilige Duell im Ring schnell mal zum „Kampf des Jahres“ oder „Duell der Unbesiegbaren“ hochstilisiert. Und der jeweilige Protagonist, meist das Zugpferd des veranstaltenden Boxstalls und Hauptkämpfer des TV-Abends, auf den Sockel gehoben und als „Iron Mike“, „Golden Boy“ oder eben „King Arthur“ in den Heldenstatus befördert.

Und so sitzt er also da und löffelt genüsslich seine altmärkische Hochzeitssuppe: Robert Stieglitz – „Der letzte Kämpfer“. Doch so recht mag das Etikett, das ihm sein Promoter Ulf Steinforth angesichts des bevorstehenden, von SES ersteigerten und somit veranstalteten EM-Duells am 12. November in Magdeburg aufgedrückt hat, nicht passen. Es sei denn, der „letzte Kämpfer“ von heute übt sich wie Stieglitz trotz redlich verdienter Lorbeeren und großer Börsen in Bescheidenheit, entschuldigt sich für die zweiminütige Verspätung („Ich hasse Unpünktlichkeit.“) und trägt im Alltag eine graue Jogginghose, Sportschuhe und einen dunkelblauen Pullover.

Doch wer ganz genau hinsieht, der entdeckt schon den einen oder anderen Hinweis auf den Beruf und die Berufung des Magdeburger Boxers: Rötliche Narben über und unter dem rechten Auge, OP-Narben auf der rechten, leicht angeschwollen wirkenden Schlaghand. Ja, so sieht ein Kämpfer aus! Einer, der sein Herz in den Boxring wirft. Einer, der viele Schlachten gewonnen, aber auch einige verloren hat. Einer, der nur den Vorwärtsgang kennt. Einer, der sich aus der Deckung wagt und einstecken kann –und es bei diesem selbstmörderisch anmutenden Kampfstil zwangsläufig wohl auch muss.

Aber ist Robert Stieglitz, der 2013 nach dem WM-Triumph über Arthur Abraham in eben seinem Wohnzimmer zum Ehrenbotschafter der Stadt Magdeburg ernannt wurde, wirklich auch der „letzte“ Kämpfer?

Der Ex-WBO-Champion überlegt kurz und antwortet dann: „Ja. Das kann schon sein. Im Moment vielleicht, weil im deutschen Profiboxen vieles den Bach heruntergeht.“ Von den Stars der Szene verliere einer nach dem anderen seinen WM-Titel. Zuletzt hatte es Halbschwergewicht-Weltmeister Jürgen Brähmer erwischt. Davor waren es Felix Sturm, Wladimir Klitschko, Arthur Abraham – alles Namen, mit denen die Renaissance des deutschen Profiboxens nach Maske, Schulz & Co. in Verbindung gebracht wurde. Auch ein paar Sternchen gingen auf, drohen aber schnell wieder zu verglühen – siehe Vincent Feigenbutz. „Und dann gibt es noch jene Boxer wie Felix Sturm mit seinen dummen Sprüchen, Provokationen und Dopingverdächtigungen“, führt Stieglitz aus. „Oder ein Tyson Fury, der wegen Kokain- oder Alkoholmissbrauchs für Gesprächstoff sorgt. Sie haben unseren Sport endgültig in den Dreck gezogen.“

Er dagegen verkörpere eher Beständigkeit, boxerische Klasse und Kämpfertum, glaubt Stieglitz. „Ich war vor 15 Jahren schon da, habe gekämpft und ich bin immer noch da und kämpfe.“ Und das ehrlich und auf einem hohen Level, wie er betont. Wenn er am 12. November in der Getec-Arena in den Ring steigt, dann ist das bereits sein 56. Fight. „So viele hat kein anderer aktiver deutscher Profiboxer auf dem Buckel. Ich habe mich in all den Jahren nicht verändert und bin trotz der Erfolge auf dem Boden geblieben. Das alles macht mich schon in gewisser Weise stolz“, erklärt der zweifache Weltmeister, der allein 13 WM-Kämpfe bestritten hat – alle im Supermittelgewicht.

Steinforth hält nach wie vor große Stücke auf Robert Stieglitz, seinen „Ziehsohn“. Verständlich, war der 2000 aus dem russischen Jejsk nach Magdeburg übersiedelnde „Sergey Shtikhlits“ erst 19 Jahre jung, als der Promoter ihn unter Vertrag nahm.

Ein Rohdiamant, der von den Trainern Werner Kirsch, Torsten Schmitz und Dirk Dzemski schließlich zum Weltmeister geschliffen wurde. „Robert ist nach wie vor die Lokomotive von SES. Er geht vorneweg, ist das absolute Vorbild für jeden unserer jungen Boxer. Er ist das perfekte Beispiel dafür, was man sich durch Fleiß, Konsequenz und Ausdauer erarbeiten kann.“ Und auch Dzemski konstatiert: „ Unsere Jungs vom ,Team Deutschland‘ respektieren Roberts Leistung, orentieren sich an seinen Trainingsleitungen. Sie wollen den gleichen Weg gehen und das erreichen, was er erreicht hat“, macht der Chefcoach deutlich, dass der Boxer, der SES zu Renommee und lukrativen TV-Verträgen verholfen hat, trotz des langsam verblassenden Glanzes noch immer einen Sonderstatus hat.

Es ist allerdings auch bezeichnend für den Status Quo des um Fernsehgelder und damit ums Überleben kämpfenden deutschen Profiboxens, dass Steinforth selbst seinen in die Jahre gekommenen „Goldesel“ hegt und pflegt. Im 16. Jahr des Bestehens haben sich im Magdeburger Profiboxstall, der seit zwei Jahren vom MDR finanzkräftig unterstützt wird, der ausgewählte Kämpfe live zeigt, die Reihen gelichtet. Zwar klettern WBO-Interconti-Champion Dominic Bösel und der gerade mit dem WBO-Europa-Titel dekorierte Felix Lamm die Karriereleiter Stufe für Stufe nach oben, aber Träger hochwertiger Gürtel sind Mangelware. In Schwergewichtler Tom Schwarz hat SES aktuell nur noch einen einzigen Weltmeister. Doch das „nur“ bei den Junioren. Die Weltmeisterinnen Christina Hammer und Ramona Kühne wurden 2016 fahnenflüchtig, verteidigen ihre WM-Titel nunmehr bei anderen Promotern.

Gleiches gilt für den Ex-Europameister im Schwergewicht Francesco Pianeta. Robin Krasniqi konnte zwei WM-Chancen nicht nutzen. Und Michael Wallisch, seines Zeichens immerhin WBO-Europameister im Schwergewicht, ward auch schon länger nicht mehr in Magdeburg gesehen …

Umso mehr wird sich Robert Stieglitz dessen bewusst, dass er als „letzter Kämpfer“ neben seiner eigenen Mission („Ich war nach der Niederlage gegen Abraham drauf und dran, meine Karriere zu beenden. Doch ich hatte das Gefühl, das war es noch nicht! Ich bin noch nicht fertig.“) noch eine andere Mission zu erfüllen hat. Er kann bei SES einfach noch nicht von Bord gehen, so lange Bösel als sein designierter Nachfolger noch nicht so weit ist: „Dominic ist auf einem guten Weg und hat Potenzial.“ Das sehe er, wenn sie mal zusammen trainieren oder gar Sparring machen. „In manchen Sachen ist er sogar stärker als ich. Was er braucht, ist noch mehr Erfahrung und noch ein paar Kämpfe gegen richtig starke Gegner, die ihn fordern, ans Limit zu gehen. Meistert er das, kann er in meine Fußstapfen treten und Weltmeister werden.“

Weil also Bösel & Co. noch nicht das Zeug zum Zugpferd haben, stellt der studierte Sportlehrer seine Zukunftspläne hintenan („Entweder ich mache etwas mit Immobilien oder werde Trainer.“). Er spannt sich selbst vor den Karren und zieht am 12. November als Pflichtherausforderer von Europameister Mehdi Amar in die nächste Schlacht. Robert Stieglitz tut dies aus freien Stücken, aus Liebe zum Boxen. Und, wie gesagt, aus Verantwortungsgefühl gegenüber seinem Brötchengeber Steinforth. Vor allem aber steigt er erneut in den Ring, weil er es kann. „Ich boxe weiter, so lange ich das Gefühl habe, dass ich jeden Gegner, den ich vorgesetzt bekomme, bezwingen kann. In meiner neuen Gewichtsklasse fühle ich mich sauwohl. Das Limit schaffe ich locker und muss dabei nicht mal auf Schokolade oder ein Lammkotelett verzichten“, erklärt der „Genussmensch“, wie er nunmehr dem vermeintlich größten Kampf, nämlich dem mit der Waage, clever aus dem Weg geht.

Mit 35 Jahren sei er schon zweifacher Familienvater (Oskar/10 Jahre; Valerie/zwei Monate), und nicht mehr der Jüngste. Aber er sei immer noch topfit und könne den Jungen etwas vormachen. So wie zuletzt, als die gesamte Trainingsgruppe auf den Brocken laufen musste. Stieglitz Augen strahlen. Sein Oberkörper strafft und die Faust ballt sich, während er zum Besten gibt: „Da habe ich alle abgehängt und war als Erster oben auf dem Berg.“ Da war er wieder, der letzte Kämpfer, dessen letzter Kampf noch lange nicht gekommen zu sein scheint.