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Rudern Hackers größter Erfolg heißt Haakon

An diesem Sonntag bestreitet Ruderer Marcel Hacker vom SC Magdeburg das letzte Rennen seiner Karriere.

Von Daniel Hübner 24.09.2016, 01:01

Magdeburg l Der letzte gute Tag seiner Laufbahn war der 24. August. Es war der Tag, an dem Marcel Hacker von seinen fünften und letzten Sommerspielen zurückkehrte und der SC Magdeburg seine Rio-Teilnehmer im Herrenkrug empfing. Marcel Hacker war in all seinen Facetten zu erleben. Polternd und laut beschwerte er sich über den Magdeburger Stadtverkehr, unter Tränen verkündete er sein Karriereende, warmherzig beschrieb er seine Gefühle: „Natürlich ist auch Wehmut dabei, denn ich hatte eine geile Zeit. Ich möchte keine Sekunde missen. Jeder Fehler hat mich in meiner Entwicklung weitergebracht. Aber ich verspüre auch eine große Erleichterung, nun ein neues Kapitel meines Lebens aufschlagen zu dürfen.“

Hacker kann so viele Geschichten erzählen aus seinem Leben. Manchmal kann man sich herzlich amüsieren, wenn er berichtet, wie er sich 1996 beim Frühtest im Rennen mehrfach übergeben musste, weil sein Magen die Milchprodukte vom Frühstück nicht rechtzeitig verarbeitet hatte. „Heute nennt man es Laktoseintoleranz“, sagt er und lacht. Manchmal wird man auch nachdenklich, wenn er die Geschichte von seinem WM-Sieg in Sevilla 2002 erzählt. „Am Abend vor dem Finale habe ich fünf Bier getrunken, bin um halb Zwei ins Bett, bin um halb Sieben zum Training. Und nach zwei Schlägen wusste ich: Heute wird alles passen. Heute wirst du Weltmeister. Das Gefühl hatte ich danach nie wieder.“ Und manchmal erzählt er die anderen Geschichten, die von Enttäuschung künden, von Niederlagen. Und letztlich davon, wie hart das Leben zu einem sein kann.

Hacker war das Kind, das Aggressionen loswerden musste. Er probierte es beim Boxen, Judo und beim Schwimmen, im August 1991 entschied er sich endgültig fürs Rudern, mit 14 Jahren. Er wechselte im Februar darauf an die „Schellheimer“-Sekundarschule, wo Direktorin Marion Wegener sowie Lehrer und Trainer Bernd Stumpe „meinem Leben eine Ordnung und einen Rhythmus gaben. Sie haben mich zu dem geformt, was ich heute bin“, erklärt Hacker. Noch heute nennt er Wegener eine „gute Freundin“ und Stumpe seinen „Ziehvater“. Sie halfen ihm durch die zehnte Klasse. Ihnen schenkte er sein Vertrauen, wie alles in seinem Leben eine Frage des Vertrauens wurde.

Wegener und Stumpe waren dann umso trauriger, als Hacker zum 1. Januar 2000 den SCM in Richtung Casseler Frauen-Ruderverein verließ. Das Talent, inzwischen hatte Hacker Instandhaltungsmechaniker bei der Bahn gelernt, wollte den Einer fahren. Unbedingt. „Ich bin in einer Dezembernacht 1996 aufgewacht und habe gesagt: Ich fahre den Einer bei den Spielen in Sydney.“

Doch unter Roland Oesemann, Trainer der Magdeburger Elite-Ruderer, wollte er nicht arbeiten, „weil es zwischenmenschlich nicht funktioniert hat“. Oesemann sah Hacker im Doppelvierer. Für den Einer hatte er André Willms vorgesehen.

Wenn Hacker über die zweite Phase seiner Karriere spricht, lacht er selten. Sein Trainer hieß ab 2000 Andreas Maul, kein ausgebildeter Coach, sondern ein Bauunternehmer, der zuweilen für den Deutschen Ruderverband (DRV) arbeitete. Vier Jahre zuvor hatten sie sich kennengelernt, und Hacker hatte Vertrauen geschöpft, weil Maul ihm eine Perspektive als Einerfahrer gab. Sie schlugen ihr Lager an der Münchner Regattastrecke in Oberschleißheim auf. Sie kapselten sich völlig ab – auch vom Verband. Acht Jahre lang gingen sie ihren eigenen Weg. „Ich habe die Zeit genossen“, sagt Hacker, „auch wenn ich meine Heimat vermisst habe.“

Unter Maul feierte Hacker seine größten Erfolge: Olympia-Bronze in Sydney 2000, Weltmeister in Sevilla 2002 und Vizeweltmeister 2003 und 2006, zwischen 2001 und dem WM-Finale 2003 blieb er in 41 Rennen in Serie ungeschlagen. Unter Maul erlebte er aber auch die größten Enttäuschungen: jeweils Platz sieben bei den Sommerspielen in Athen 2004 und Peking 2008.

In Athen setzte er sich vom Leben im Athletendorf ab. Er bezog seinen eigenen Wohnwagen, er bekochte sich selbst. Er sprach mit keinem Reporter. Das sollte die Konzentration fördern, aber es förderte Einsamkeit und zu viele Gedanken. Hacker redet gerne, mit Reden überdenkt er sein Handeln, mitten im Gespräch findet er Lösungen. „In Athen“, sagt er, „habe ich zum ersten Mal den Druck gespürt.“

Vier Jahre später war er dem nicht mehr gewachsen. Erst stieg er im Hoffnungslauf beim Weltcup in Luzern bereits nach 300 der 2000 Meter aus. Dann scheiterte er erneut im olympischen Halbfinale. Eine Woche vor den Sommerspielen war zudem sein Vater gestorben, ein Mann, „der mir immer einen Stuhl angeboten hatte, selbst wenn das Haus voll war“, beschreibt er die vertrauensvolle Beziehung zwischen den Männern. Die endete nach Peking zwischen Hacker und Maul, weil der Trainer das Schicksal seines Schützlings ausgeplaudert hatte.

In all den Jahren in Oberschleißheim hatte Hacker die Faszination der Medien geweckt. In all den Jahren wurde immer wieder das Kopfproblem des 1,96-Meter-Hünen durchpflügt. In all den Jahren entwickelte sich Hacker zum Meister der Selbstinszenierung. Eine Zeitlang rasierte er sich den Kopf so kahl, bis er beinahe furchterregend aussah. Eine Zeitlang präsentierte er sich ständig mit freiem und gestähltem Oberkörper, weil jeder „seinen Maschinenraum sehen sollte“. „Der Spiegel“ beschrieb ihn als „Vulkan auf dem Wasser“. Der „Tagesspiegel“ nannte ihn einen „seriösen Macho“ und notierte: „Marcel Hacker inszeniert sich gerne als Großmaul – die Rolle dient ihm auch zum Selbstschutz.“ In diesen Selbstschutz investierte er unheimlich viel Kraft.

Nach den Spielen in Peking hatte er keine Kraft mehr. Zugleich war das der Anfang seines Wandels, mit 31 Jahren. „Der Tod meines Vaters hat mir zum ersten Mal gezeigt, dass alles im Leben endlich ist“, erinnert sich Hacker. Er suchte eine Psychologin in München auf, die eine gute Freundin wurde. Er ruderte weiter für die RG Germania in Frankfurt (Main), für die er bereits seit 2005 startete. Er lernte Katina kennen und lieben, sie wurde erst sein Mentalcoach, dann seine Gattin. Sie wurden Eltern von Haakon. Innerhalb von drei Jahren hatte Hacker sein komplettes Leben umgekrempelt. Er sagt: „Mein Sohn, meine Familie – das ist der größte Erfolg meines Lebens.“

Haakon wird wohl nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten: „Ich bleibe ein Handballer“, hat der Fünfjährige verkündet. Und zwar in Blankenburg, der Heimat der Familie. Hacker ist alles recht, was sein Sohn für sich entdeckt: „Die Hauptsache ist, er ist damit glücklich.“

Glücklich war Hacker auch am 24. August bei seinem Abschied und trotz Tränen. Die letzten Jahre waren zuweilen eine Qual, das sah man ihm an, das hörte man am Telefon. Er sagte oft: „Das Rennen tat richtig weh.“ Er wurde Sechster bei den Sommerspielen in London 2012, er kehrte zum SCM 2013 zurück und gewann im gleichen Jahr WM-Bronze. Er raufte sich zusammen mit Trainer Oesemann. Er schaffte es tatsächlich im Doppelzweier zu seinen fünften Spielen und wurde in Rio Achter. Er wollte eine Medaille zum Abschied, aber er brauchte sie nicht, um für sich klarzustellen: „Ich bin stolz auf meine Leistung, die ich in den 25 Jahren erbracht habe.“

An diesem Sonntag wird der 39-Jährige sein letztes Rennen bestreiten. Auf der Trogbrücke in Hohenwarthe wird er mit Magdeburgern im Städteachter gegen Halle (ab 13.30 Uhr) um die Vorherrschaft kämpfen. Danach soll seine neue Aufgabe als Coach beginnen, schon im Januar hat er seine A-Lizenz erworben. Derzeit laufen dazu die Gespräche. Marcel Hacker wird ein wunderbarer Trainer sein. Schon allein, weil er weiß, wie Vertrauen geht.