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Leichtathletik SCM-Werfer klotzen in der Idylle

Coach Armin Lemme mag Kienbaum, weil seine Diskuswerfer vom SC Magdeburg dort abgeschottet von der Hektik des Lebens trainieren können.

Von Daniel Hübner 31.08.2019, 17:38

Kienbaum l Als Armin Lemme noch das Sportinternat besuchte, und das ist zugegeben schon sehr lange her, wurde die Lieblingsmusik unter Athleten nicht geteilt, sie wurde zugeordnet. Lemme ist damals bei der Vergabe der tollsten Bands offenbar etwas zu spät gekommen. Der eine Athlet hatte sich nämlich die Geschmacksrechte an den „Beatles“ gesichert, der andere jene an den „Rolling Stones“. Für den damaligen Diskuswerfer und heutigen Trainer vom SC Magdeburg blieb nur der schrille Gesang der „Bee Gees“. Was wiederum zu Lemmes stimmlichem Bass ganz und gar nicht passt. Eher noch „The Doors“, die ihn am Dienstag dieser Woche wohlwollend auf der Wurfanlage in Kienbaum empfangen. Durch die stille Idylle am Liebenberger See hämmert „Light my fire“ aus der Konserve.

Es hat den 63-Jährigen dann gefreut oder vielmehr gewundert, dass seine Schützlinge Anna Rüh, Martin Wierig und David Wrobel anlässlich ihrer Erwärmung vor dem Training die Armin-Lemme-Gedächtnismusik ausgewählt haben. Aber dieser Ohrenschmaus hält nicht allzu lange, weshalb sich der Coach schnell in seiner alltäglichen Situation wiederfindet, „die Musik ertragen zu müssen“, sagt er gequält lächelnd. Man kann es auch überleben nennen.

House mit Techno-Einschlag, Hip Hop und weitere undefinierbare Klänge „versüßen“ ihm die Vormittagseinheit unter der Sonne Brandenburgs, am Rande von Berlin. Bei 30 Grad Celsius und Windstille. 25 Würfe pro Athlet. Mit einer kurzen Eisenstange.

Immer wieder Kienbaum, dieser wunderschöne Hort der Ruhe. Oder wie Anna Rüh am achten Tag ihres jüngsten Aufenthalts sagt: „Wenn man hier länger als fünf Tage ist, wird es stinklangweilig.“

Dabei steht sie im Kältebecken im Medizintrakt, zittert sich im 8,9 Grad kalten Wasser den Kater aus den Muskeln, beugt sie ganz langsam nach vorn, taucht ihre Ellenbogen ein. Wierig sagt: „Wenn man sich bewegt, wird es noch kälter.“ Und bewegt sich, während seine 26-jährige Lebensgefährtin lieber starr im beinahe eisigen Nass verharrt.

Wierig hat seine Besuche in Kienbaum nicht gezählt. Er war 2001 das erste Mal dort, um gleich eine Bestleistung aufzustellen. Im Bankdrücken. 42,5 Kilogramm. 18 Jahre später steht sein Rekord bei 195 Kilo. Kienbaum wird ihm auch nicht langweilig. Jedenfalls nicht allzu sehr. Er fährt mal raus, um irgendwo einen Burger zu essen. Er hat zur Not immer eine Playstation dabei, um ein Spiel zu zocken.

Doch Videospiele braucht er diesmal nicht. Denn Wierig bereitet sich gerade auf seine fünfte Weltmeisterschaft vor. In Doha (Katar) bestreitet er mit SCM-Gefährte Wrobel am 28. September den Vorkampf und zwei Tage später den Endkampf. Dieser ist zumindest das höchste Ziel der beiden.

Der 2,02-Meter-Hüne hat in Kienbaum nicht nur unzählige Male trainiert. Wierig hat dort auch unzählige Male alles hinterfragt. Wie er Schwung holt, wie er Würfe hält. An jenem Dienstag ist das nicht anders. „Ich habe schon immer alles hinterfragt“, sagt Wierig lächelnd und ergänzt: „Mein Trainer und ich sind ständig im Austausch, weil es mir auch wichtig ist, dass er weiß, was ich fühle. Wir sind in einer technischen Disziplin, einen perfekten Wurf gibt es nicht. Deshalb spielen manchmal auch die Emotionen rein, gerade wenn man unzufrieden ist. Wichtig ist aber, dass wir letztlich auch einen gemeinsamen Ansatz finden.“

Nach der Kraftphase beginnt nun die Wurfphase, die Entdeckung der Schnelligkeit im Ring, die Suche nach der technischen Perfektion. Mit der 2,1 Kilogramm schweren Eisenstange hat Wierig bereits 67,21 Meter weit geworfen, diesmal kommt er auf 65,05 Meter. Lemme steht mitten auf der Wiese, während an ihm vorbei oder über ihn hinweg die Stangen fliegen. Er sagt zu Wierig Sätze wie: „Jetzt hast du zu aktiv angedreht, deshalb verlierst du die Struktur.“

Er sagt zu Rüh, die mit einer 1,2 Kilo schweren Stange wirft, Sätze wie: „Das war technisch sauber, aber jetzt bitte mit Karacho.“ Durch die schöne Idylle. Und Lemme lobt Wrobel mit Sätzen wie: „Das war der beste Wurf aller Zeiten.“ Tatsächlich: Wrobel schafft es mit 62,99 Metern so weit wie noch nie.

Das Krafttraining hat sich also auch für den 28-Jährigen ausgezahlt. Mit 180 Kilogramm hat er eine neue Bestmarke gestemmt in Kienbaum, zwei Tage nach seinem Hexenschuss, der seinen Start am Freitag vergangener Woche in Bad Köstritz verhinderte. Eine Spritze, eine Schmerztablette und einen Hantelrekord später kann Wrobel von sich behaupten: „Ich fühle mich topfit.“

Am Sonntag will er das im Ring zeigen, im Berliner Olympiastadion, beim Istaf, sein erstes, Wierigs neuntes. Und die Konkurrenz ist dort so groß, weshalb Wrobel erklärt: „Die Generalprobe für Doha gleicht einer WM.“ Denn Weltmeister Andrius Gudzius aus Litauen oder Olympiasieger Christoph Harting sind sicher dabei.

Wrobel strebt spätestens zu seinen ersten Welttitelkämpfen überhaupt sein ganz persönliches Jahresziel an: „Ich will auf jeden Fall noch zwischen 66 und 67 Meter werfen“ – also Bestweite. „Meine Kraftwerte stimmen, wenn ich die noch auf den Diskus bringe, dann ist alles möglich.“

Anna Rüh will bei der Militär-WM in Wuhan (China/15. bis 28. Oktober) überzeugen. „Für mich ist das ein absolut wichtiger Wettkampf. Ich nehme daran nicht nur teil, ich will dort Weltmeisterin werden.“ Und mit einer Weite über die Jahresbestmarke (61,50) hinaus die Saison mit einem guten Gefühl abschließen.

Wierig hat alles gezeigt, was ein konstanter Werfer zeigen muss im Verlauf einer Saison. „Jetzt arbeiten wir auf einen Ausreißer nach oben hin“, sagt der 32-Jährige. Einer, bei dem er die Zwei-Kilo-Scheibe über den bisherigen Bestwert von 66,04 Metern hinausträgt. Einer, der ihm eine gute Platzierung bei der WM beschert. In Bad Köstritz hatte er aus dem Training heraus und bei Windstille 64,81 Meter erzielt. „Die Bedingungen waren ähnlich wie im Stadion, deshalb war ich mit der Leistung zu diesem Zeitpunkt zufrieden“, erklärt Wierig.

Das war er ganz sicher auch am Freitagabend beim 16. Werfertag in Thum im Erzgebirge, wo er beim Sieg des Rumänen Alin Firfirika (65,50) den dritten Platz mit 64,91 Metern belegte. Wrobel brachte die Scheibe auf 63,73 Meter und wurde Sechster. "Ich war doch ganz schön platt vom Trainingslager", berichtet Wierig. "Ich hoffe, am Sonntag geht es noch weiter." Lemme spricht indes für alle, wenn er sagt: „Momentan haben wir einen sehr guten Leistungsstand.“

Den will Lemme nicht gefährden. „Wir dürfen jetzt nicht überziehen, sonst fallen wir mit Blick auf Doha in ein Loch.“ Also kommt nach dem Istaf eine ruhige Woche. Dann folgt ab 9. September wiederum ein Aufenthalt über fünf Tage in Kienbaum, „wo wir noch einmal ranklotzen werden“, betont Wrobel. Folgt ein Trainingslager in Belek (Türkei) ab 18. September, wo „wir die Spannung hochhalten wollen“, sagt Lemme. Folgt die WM.

Auf der Suche nach dem passenden Lied für Doha müssen Wrobel und Wierig die Ohren ihres Trainers nicht gleich mit Queens „We are the champions“ beglücken, ein individuell und allgemein gültiges „Simply the best“ von Tina Turner würde vollkommen reichen. Armin Lemme könnte es ertragen.