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Analyse: Das Gabriel-Beben

Der Parteitag endet für Sigmar Gabriel im Debakel. Ein Viertel der SPD fürchtet sich vor dem Mitte-Kurs des Vorsitzenden, mit dem er 2017 eigentlich die Wahl gewinnen will. Kann er jetzt noch Kanzlerkandidat werden?

Von Tim Braune und Christiane Jacke, dpa 11.12.2015, 17:02

Berlin (dpa) - Es ist ein Schock für Sigmar Gabriel. Eine kleine Ewigkeit sitzt er regungslos auf seinem Stuhl. Sein Gesicht wirkt wie eingefroren. Nur 74,3 Prozent bei der Wiederwahl. Das ist ein Misstrauensvotum für den Vorsitzenden und Vizekanzler, das kaum schlimmer hätte ausfallen können.

Es ist das zweitschlechteste Ergebnis eines SPD-Chefs in der Nachkriegsgeschichte. 1995 hatte Oskar Lafontaine in Mannheim 62,6 Prozent bekommen - aber unter anderen Vorzeichen. Damals war das für Lafontaine ein Triumph in der Kampfabstimmung gegen Rudolf Scharping. 

Gabriel scheint gegen 15.20 Uhr innerlich mit sich zu ringen. Dann strafft er sich und macht das, was er mit dem Rücken zur Wand oft tut. Er kämpft und meint sarkastisch zur Reaktion der Delegierten im Saal, die sich erhoben haben und klatschen: Man muss nicht erst auf'm Stimmzettel dagegen stimmen und dann aufstehen. Das macht auch keinen Sinn. 

Er wisse schon, wie die Schlagzeilen jetzt lauten würden: Gabriel abgestraft...und das ist ja auch so. Die Bürger im Land würden sich nach dieser Abstimmung fragen, kann man einer SPD trauen, die sich selbst beim eigenen Vorsitzenden nicht sicher ist.

In der Not versucht er, das Beste aus dem Tiefschlag zu machen. Jetzt sei heraus, dass 25 Prozent in der SPD seinen Kurs nicht mittragen wollten. Ich verstehe das Ergebnis wie folgt: jedem ist klar, was ich will, ruft er in den Saal. Und fügt ziemlich kaltschnäuzig nach so einem Denkzettel hinzu, jetzt sei eben mit Drei-Viertel-Mehrheit entschieden, wo's langgeht.

Wirklich? Kann der Goslarer noch Kanzlerkandidat werden? Nach dieser Klatsche gibt es daran ernsthafte Zweifel. Aber wer sollte es sonst machen? Frank-Walter Steinmeier will sich das nicht noch einmal antun. Andrea Nahles kann warten, bis Gabriels Zeit vorbei ist. Ein bisschen Wind wirft Dich nicht um. Wir brauchen Dich, sagt sie zum Niedersachsen. 

Ob und wie sich Gabriel von diesem Parteitag rasch erholen soll, ist völlig offen. Bei den Landtagswahlen im März im Südwesten drohen Schlappen. Angela Merkel und die Union dürften sich aber nur auf den ersten Blick die Hände reiben. Ein schwer angeschlagener Gabriel dürfte ein weniger berechenbarer Koalitionspartner sein.

Hohl klingt nun dessen zentrale Botschaft seiner Rede an die Partei: Wir wollen Deutschland wieder regieren und nicht nur mitregieren. Natürlich vom Kanzleramt aus. Wo denn sonst? 

Aber wie konnte der Parteitag, der bis zu Gabriels Rede weitgehend geschlossen verlief, so aus dem Ruder laufen? Gabriel hatte noch am Freitag auf dem Flur geunkt, man wisse nie, welches Ventil sich ein SPD-Parteitag suche. Die Streitthemen Flüchtlinge, Handelsabkommen TTIP und Doppelspitze waren so gut wie abgeräumt worden. Die Generalsekretärin Yasmin Fahimi fiel mit ihrem Rückzug als Blitzableiter für Gabriel aus.

So musste der Chef herhalten. In Gabriels Umfeld sind sie fassungslos. Die Partei habe jetzt ein wirklich fettes Problem. Es sei erschütternd, wie verantwortungslos viele Delegierte sich verhalten hätten. Auch wirft das Gabriel-Lager den Landeschefs vor, sie hätten ihren Leute den Ernst der Lage nicht deutlich genug gemacht. Manche idiotischen Delegierten meinen, sie seien hier im Sandkasten, zürnt ein Führungsmann. 

Dass Ärger aufzog, deutete sich am Nachmittag in der Aussprache zur Rede an. Gabriel hatte 107 Minuten lang eher staatsmännisch versucht, die Herzen und Stimmen der Delegierten zu erreichen. Ein großer Wurf ist die Rede, die erhebliche Längen hat, nicht. Um das spätere Debakel zu verstehen, ist wichtig zu wissen, dass Gabriel seine Gegner keineswegs schont. Und er preist einen Kurs der Mitte, mit dem er die SPD in den Bundestagswahlkampf führen will.

Ganze Passagen hören sich wie ein Entwurf für das Wahlprogramm 2017 an. Die SPD sollte keine Scheu haben, die arbeitende Mitte in Deutschland zu umwerben. Auch geißelt er die Vermögensteuer, eine heilige Kuh der Linken, und geht verbal auf Schmusekurs zu den Wirtschaftsbossen. Dass Gabriel auch noch bei der Inneren Sicherheit die SPD auf Law-and-Order trimmen will, ist für seine Widersacher offensichtlich too much. 

In der Aussprache greift ihn Johanna Uekermann frontal an. Die Juso-Chefin stellt ihn als eine Art Politik-Scharlatan hin. Uekermann, die jüngst Merkel lobte und Gabriel die Schulnote 4 minus verpasste, sagt, sie könne viele Leute verstehen, die bei Gabriels Politik sagten: Ich kann der SPD nicht glauben, dass sie tut, was sie sagt. Gabriel ist stinksauer. Einen schwereren Vorwurf kann man Politikern nicht machen, erwidert er scharf. So einen Umgang halte die SPD nicht aus, kanzelt er die Jungsozialistin ab.

Auch Gabriels Kurs in der Flüchtlingspolitik, in seiner Rede verlangt er mehr Kontrolle und eine Reduzierung der Zahlen, empfinden viele wohl als Verrat von SPD-Werten. Da half dann auch nicht, dass Gabriel dem Parteitag das Bonbon hinhielt, über einen künftigen möglichen Kampfeinsatz der Bundeswehr in Syrien die Mitglieder abstimmen zu lassen. So nimmt das Drama seinen Lauf.

Wie ein böses Omen für Gabriel wirkt im Nachhinein, dass der erste Wahlgang wegen einer peinlichen Technik-Panne abgebrochen werden muss. Die Genossen machten auf guten, alten Stimmzetteln ihr Kreuzchen. Für Gabriel zu wenig. Der Traum vom Kanzleramt scheint weiter entfernt denn je. Dabei erzählte Gabriel noch in seiner Rede munter, seine kleine Tochter frage ihn immer: Wie lange musst du denn noch immer zu Angela Merkel fahren? Gabriel hat ihr versprochen: Keine Angst, nur noch bis 2017. Der SPD-Chef will auch bei 74,3 Prozent durchhalten: So ist Lebben in der Demokratie. 

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