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Kinder sind die Leidtragenden Dringend gesucht: Vielerorts fehlen Lehrer

An vielen Schulen reicht es gerade noch so. Doch wird ein Lehrer krank, bricht das fragile Konstrukt zusammen. Anderswo ist der Lehrermangel schon so groß, dass Unterricht ausfällt. Der Frust wächst auf allen Seiten.

Von Christine Cornelius, dpa 09.08.2018, 14:53

Berlin (dpa) - Angesichts eines teils massiven Lehrermangels schlagen Schüler, Eltern und Pädagogen Alarm. Sie beklagen schwere Versäumnisse in der Bildungspolitik und befürchten Nachteile durch Lücken im Unterrichtsstoff.

Im neuen Schuljahr werde sich die bislang schon dramatische Situation vielerorts noch verschlimmern, sagen Experten. Lehrer fehlen demnach vor allem an Grundschulen, Förderschulen und ehemaligen Hauptschulen. Folgen des Mangels: Unterrichtsausfall, größere Klassen - und im schlimmsten Fall fehlen sogar Noten auf Zeugnissen.

"Ich rechne mit einer Verschärfung vor allem in den neuen Bundesländern und auch in den Stadtstaaten, insbesondere in Berlin", sagte der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger. "Aber auch in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ist die Unterrichtsversorgung auf Kante genäht."

Bei Krankheitsausfällen werde es auch dort große Versorgungsengpässe geben. "Im Endeffekt sind die Kinder die Leidtragenden, weil sie keinen guten und vollständigen Unterricht bekommen", sagte Meidinger. Das frustriere auch die Lehrer, da sie ihr Ziel, die Schüler bestmöglich zu fördern, nicht erfüllen könnten.

Tatsächlich seien die Zeiten vorbei, in denen sich die Schüler über Unterrichtsausfall vor allem freuten, sagte der Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz (BSK), Hannes Leiteritz. Sie befürchteten vielmehr Nachteile für die nähere Zukunft - zum Beispiel bei Bewerbungen. "Weniger Unterricht heißt weniger Stoffvermittlung. Und der Stoff, der nicht vermittelt wird, kann auch in späteren Jahren nicht aufgeholt werden", kritisierte der Abiturient aus Schleiz in Thüringen. "Es entstehen Lücken, die später nicht wieder geschlossen werden können, weil immer neuer Stoff nachkommt."

Zu wenige Lehrer - und immer mehr Schüler: Nach einer offiziellen Prognose wird die Zahl der Schüler bis 2030 bundesweit um 278.000 auf 11,2 Millionen steigen. Das seien über zwei Prozent mehr als 2016, hatte die Kultusministerkonferenz (KMK) im Mai mitgeteilt. Als Gründe nannte sie gestiegene Geburtenzahlen und viele Zuwanderer.

Die Länder tun inzwischen einiges, um das Ruder herumzureißen: Bayern will mit einem Ausbau des Studienangebots auf die steigenden Schülerzahlen reagieren: Ab Oktober soll es dort unter anderem 700 neue Studienplätze fürs Grundschullehramt geben. Sachsen will mit einer Geldprämie versuchen, den Lehrermangel auf dem Land einzudämmen: Referendare sollen von Januar 2019 an bis zu 1000 Euro Zulage bekommen, wenn sie ihren Anwärterdienst im ländlichen Raum absolvieren. In Brandenburg können bald Lehrer nach der Pensionierung weiter arbeiten, bei einem besonderen dienstlichen Interesse.

KMK-Chef Helmut Holter schlägt vor, Lehrer nicht mehr strikt getrennt nach Schularten auszubilden. "Wenn wir erreichen wollen, dass wir den Unterricht an den Schulen absichern wollen, müssen wir die Durchlässigkeit zwischen den Schulen erhöhen", sagte der Thüringer Bildungsminister (Linke). Die Lehrerausbildung dürfe nicht mehr etwa nach Gymnasium, Grund- und Realschule erfolgen, sondern nach Altersstufen der zu unterrichtenden Kinder. Dadurch könnten Lehrer flexibeler an unterschiedlichen Schulen eingesetzt werden.

In Berlin hat der Lehrermangel besonders dramatische Züge angenommen: Im Juni fehlten laut Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) in der Hauptstadt noch 1250 Lehrer - so viele wie noch nie. Ein Projekt zum Lückenstopfen heißt hier "Unterrichten statt Kellnern": Studenten in lehramtsbezogenen Masterstudiengängen werden Halbjahres- oder Jahresverträge an Schulen angeboten.

Die Maßnahmen kommen aus Expertensicht zu spät. "Es wurden Prognosen verschlafen und es wurde nicht rechtzeitig gegengesteuert", sagte Meidinger vom Lehrerverband. "Die Politik, auch das Bundesbildungsministerium, hätte die Hochschulen auffordern müssen, die Lehrerausbildungskapazitäten nicht so stark abzubauen." Die Länder hätten nicht rechtzeitig auf den Geburtenanstieg reagiert. "Es hätte viel früher eine massive Lehreranwerbung geben müssen."

Auch aus Sicht des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) ist der Lehrermangel zu einem großen Teil hausgemacht. "Wie kann es sein, dass man in solch eine enorme Lücke hineinschlittert?", kritisierte VBE-Chef Udo Beckmann. "Wenn die Politik nicht massiv nachsteuert und umsteuert, dann sehe ich auf absehbare Zeit keine Entspannung."

Linke-Chef Bernd Riexinger kritisierte "jahrzehntelange, schwere Versäumnisse" in der Bildungspolitik und forderte die Soforteinstellung von 10.000 Grundschullehrern sowie ein Anheben der Besoldung angestellter Lehrer auf Beamtenniveau. Die FDP-Politikerin Nicola Beer sprach sich für "ein Sofortprogramm für weltbeste Bildung" aus. Dabei sei es wichtig, "dass der Lehrerberuf vor allem auch im Grundschulbereich finanziell attraktiver wird. Für Quereinsteiger muss es einfacher möglich sein, an Schulen unterrichten zu können".

Die Eltern sind ebenfalls in Aufregung. "Aus unserer Sicht ist der Lehrermangel zurzeit so schlimm, wie er noch nie war", sagte Bundeselternrat-Chef Stephan Wassmuth. "Wir sind eine Leistungsgesellschaft, das darf man nicht vergessen. Eltern machen sich Sorgen, dass die Grundlagen fehlen." Es könne nicht die Lösung sein, dass Eltern den fehlenden Stoff mit ihren Kindern in der Freizeit nachholten oder Nachhilfe finanzierten.

Auch mit Seiteneinsteigern versuchen Länder, Lücken zu stopfen. In Nordrhein-Westfalen hatte 2017 laut Schulministerium jeder neunte neu eingestellte Lehrer keine grundständige Ausbildung. Meidinger sieht diesen Trend kritisch und spricht von einer "Notlösung". "Geschieht das in großem Umfang, verschlechtert das die Unterrichtsqualität."

Beckmann vom VBE gibt zu bedenken, Seiteneinsteiger hätten teils überhaupt keine pädagogische Qualifikation. "Gerade in der Grundschule brauchen wir aber bei der hohen Diversität der Schüler gut ausgebildete Pädagogen." Er fordert eine pädagogische Vorqualifikation von mindestens einem halben Jahr.