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Empörung und Unverständnis Deutschland bleibt für Erdogan eine sichere Bank

Warum ist Erdogan bei den Türken in Deutschland beliebter als bei denen in der Türkei? Die Frage wird nach jedem Wahlsieg Erdogans neu gestellt. Was ist da bei der Integration schiefgelaufen?

Von Michael Fischer, Süleymann Artiisik, Max Perseke, Can Merey, dpa 25.06.2018, 20:17

Berlin (dpa) - Der Wahlsieg des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wurde nicht nur von seinen Anhängern in Istanbul oder Ankara gefeiert.

Auch in Deutschland gingen am Sonntagabend und in der Nacht zum Montag Tausende auf die Straße, um die Wiederwahl des Mannes zu feiern, der die Geschicke der Türkei nun schon seit fast 16 Jahren bestimmt.

Über den Kurfürstendamm in Berlin rollte ein Autokorso. Vor dem türkischen Konsulat in Hamburg wurden Feuerwerkskörper gezündet. In Köln musste der Hohenzollernring, eine der innerstädtischen Hauptverkehrsadern, wegen des plötzlichen Verkehrsaufkommens gesperrt werden. Und in Duisburg stiegen euphorisierte Türken auf Ampelmasten und rollten Fahnen der islamisch-konservativen AK-Partei Erdogans aus.

Cem Özdemir, früherer Vorsitzender der Grünen und einer der schärfsten Erdogan-Kritiker in Deutschland, geriet am Sonntagabend auf seinem Weg vom Flughafen nach Hause in Berlin-Kreuzberg mitten in die Feierlichkeiten, die ihn noch in der Nacht zu einem kernigen Kommentar animierten. "Die feiernden deutsch-türkischen Erdogan-Anhänger jubeln nicht nur ihrem Alleinherrscher zu, sondern drücken damit zugleich ihre Ablehnung unserer liberalen Demokratie aus", sagte er, und fügte dann noch hinzu: "Wie die AfD eben."

So wie Özdemir sind viele in Deutschland über das starke Ergebnis des türkischen Präsidenten in Deutschland irritiert bis schockiert. Warum ist der Autokrat Erdogan, der seine Macht mit der Wahl noch einmal ausgeweitet und zementiert hat, ausgerechnet bei den Türken im liberalen Deutschland so beliebt?

Erdogan kam in Deutschland nach vorläufigen inoffiziellen Ergebnissen auf fast zwei Drittel der Stimmen. Knapp drei Millionen Menschen mit türkischem Hintergrund leben in der Bundesrepublik, viele davon haben allerdings nur die deutsche Staatsbürgerschaft. 1,44 Millionen Türken in Deutschland waren dieses Mal wahlberechtigt, davon stimmte nur etwa die Hälfte ab. In absoluten Zahlen entfielen auf Erdogan etwas mehr als 420 000 Stimmen. Das ist eine beachtliche Zahl. Dass zwei Drittel der Deutschtürken Erdogan-Anhänger sind, wie es oft verkürzt dargestellt wird, gibt diese Zahl allerdings nicht her. Ausschlaggebend für seinen Sieg sind die Wähler in Deutschland ebenfalls nicht gewesen - dafür waren es viel zu wenige.

Eine Stimme für Erdogan mag auch ein Votum gegen die von vielen Deutschtürken so empfundene Diskriminierung in Deutschland sein. Eine Protestwahl also, wie womöglich - wenn man Özdemirs Vergleich folgen mag - auch bei manchem AfD-Wähler. Klar ist jedenfalls, dass die meisten Deutschtürken die Verhältnisse in der Türkei häufig nur aus dem Sommerurlaub oder aus Erzählungen von Verwandten kennen. Nicht umsonst spotten Oppositionelle in der Türkei gelegentlich, dass die Erdogan-Unterstützer in Deutschland doch jederzeit in das Land ihrer Vorfahren zurückkehren könnten, wenn dort alles so toll ist.

Ali Cevik (47), Spätkauf-Inhaber in Berlin, erklärt das gute Abschneiden Erdogans in Deutschland so: "Er ist derjenige, der die Türkei gegenüber dem Westen verteidigt. Warum heißt es immer, ihr müsst Euch anpassen?", sagt er. "Auslandstürken haben auch eine Meinung, das sollte akzeptiert werden." Auch die 55-jährige Ayse sieht die Türkei von Deutschland schlecht behandelt. "Vor Erdogan war die Türkei zurückgeblieben", sagt sie. Nun reiche sie an Europa heran. "Doch viele Menschen in Deutschland wollen die Türkei schwach sehen." Hier werde sie auf der Straße oft angerempelt. Erklärend deutet sie mit einem Finger auf ihr Kopftuch.

Das starke Ergebnis Erdogans in Deutschland ist kein Novum. Das gab es auch schon bei früheren Abstimmungen. Bei der Parlamentswahl im November 2015 kam seine AKP in Deutschland auf 59,7 Prozent. Beim Referendum über Erdogans Verfassungsreform im April 2017 stimmten 63,1 Prozent mit Ja. Schon damals gab es Debatten darüber, was das eigentlich über die Integration der Türken in Deutschland aussage.

"Das überwältigende Ja der Deutschtürken zu Erdogans Verfassungsreferendum hat gezeigt, dass die Integration total gescheitert ist", sagte AfD-Chef Alexander Gauland dem Züricher "Tages-Anzeiger" damals. Er sprach sich dafür aus, dass alle Deutschtürken, die für Erdogans Referendum gestimmt haben, Deutschland verlassen. "Weil das Votum zeigt, dass sie in diesem Land nicht angekommen sind und auch nicht ihre Heimat haben."

Solche Äußerungen wurden nach dem erneuten Wahlsieg Erdogans von der AfD zunächst nicht wiederholt. Die Diskussion wird aber auch von anderen Parteien geführt. Von der FDP zum Beispiel. "Wenn Menschen, die hier leben, die hier arbeiten, hier bereits in der zweiten oder dritten Generation nach unserem Dafürhalten gut leben können, trotzdem offensichtlich unsere Art, unser Gesellschaftsmodell ablehnen, dann stellt das Fragen an die Politik im Hinblick auf die Wirksamkeit unserer Integrationspolitik", sagte Generalsekretärin Nicola Beer. Auch CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer warf diese Frage am Montag auf - ohne eine Antwort parat zu haben.