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Wahlen in Kanada Die kleine Ohrfeige für Justin Trudeau

Mit einem Kantersieg wurde Justin Trudeau 2015 Premierminister in Kanada. Er wurde als "Sonnyboy" und "Anti-Trump" gefeiert. Vier Jahre, einige nicht eingelöste Wahlversprechen und Skandale später ist viel Lack ab. Trudeau bleibt - aber angeschlagen.

Von Christina Horsten und Benno Schwinghammer, dpa 22.10.2019, 16:07

Ottawa (dpa) - Der Wahlkampf war eng umkämpft und unversöhnlich - und so endete auch der Wahlabend. "Wir sind mit einem klaren Mandat nach Ottawa geschickt worden", sagt Justin Trudeau, Kanadas alter und neuer Premierminister, der mit seiner liberalen Partei wieder die meisten Sitze im Parlament errungen - aber die absolute Mehrheit verloren hat.

1.10 Uhr am Dienstagmorgen war es da in Montréal, und längst nicht alle Wahlbezirke im zweitgrößten Flächenland der Erde waren ausgezählt.

Traditionell spricht der Wahlsieger in Kanada als letzter und lässt allen anderen höflich den Vortritt, aber daran hielt sich diesmal niemand. Trudeaus "Führungskraft ist angeschlagen und seine Regierung wird bald vorbei sein", sagt der konservative Herausforderer Andrew Scheer zur gleichen Zeit drei Provinzen weiter westlich in Saskatchewan. "Wir sind die Regierung in Lauerstellung."

Der Wahlkampf hat die Menschen in Kanada auseinandergetrieben. Hatte Trudeau 2015 noch mit seinem glanzvollen Kantersieg die Landkarte liberal-rot gefärbt, ist dort jetzt viel Blau der Konservativen, Orange der Sozialdemokraten, Hellblau der Regionalpartei Bloc Québécois und sogar ein wenig mehr Grün zu sehen.

Zwar bleiben die Liberalen dem vorläufigen amtlichen Endergebnis zufolge mit 157 Sitzen stärkste Kraft, doch die absolute Mehrheit von 170 Mandaten wird klar verfehlt. Ganz zu Schweigen von den 184 Sitzen von 2015.

"Unser Team wird für alle Kanadier kämpfen, egal wie ihr eure Stimmen abgegeben habt", sagt Trudeau und versucht, die Menschen zu einigen. Vor allem aber wirkt er erleichtert, dass er es in dem harten Wahlkampf geschafft hat, an der Macht zu bleiben.

Denn es ist ein großes "trotz", das an diesem Tag über Kanada schwebt: Trudeaus Liberale gewinnen trotz Skandalen in den letzten Monaten, trotz einer durchwachsenen Bilanz nach vier Jahren mit einer absoluten Mehrheit im Rücken und trotz nicht erfüllter Versprechen. Das größte Glück in diesem Wahlkampf war für Trudeau dabei sein Herausforderer.

Andrew Scheer, Chef der Konservativen, blieb über die ganze Länge des Wahlkampfes blass. Statt mit frischen Ideen zu überzeugen, verfolgte er eine aggressive Anti-Trudeau-Strategie, ging den Premier hart an und beschimpfte ihn sogar als "Betrüger" - das verfing aber offensichtlich nicht bei genug Wählern.

Doch es war nicht nur Scheers Schwäche, die den liberalen Sieg ebnete. Auch die Schützenhilfe eines prominenten Weggefährten sorgte für Aufsehen: Der frühere US-Präsident Barack Obama hatte Trudeau wenige Tage vor der Abstimmung öffentlich unterstützt. Bei Twitter schrieb er, die Welt brauche dessen "progressive Führung". Meinungsforscher David Coletto hatte daraufhin von einem möglichen "Obama-Effekt" gesprochen.

Trotzdem hat Trudeau - auch wegen der Affäre um unterdrückte Korruptionsermittlungen gegen eine kanadische Firma und um alte Fotos, die ihn kostümiert mit einem als rassistisch wahrgenommenen dunkel geschminkten Gesicht zeigten - Vertrauen bei den Kanadiern verspielt. Das zeigt sich im Verlust der absoluten Mehrheit, noch mehr aber darin, dass landesweit mehr Menschen für Scheer stimmten als für Trudeau. Es ist eine deutliche Ohrfeige für die Liberalen, die nun auf die Duldung kleinerer Parteien angewiesen sind.

Die Sozialdemokraten von Jagmeet Singh und die Grünen von Elizabeth May hatten bereits vor der Wahl gesagt, dass sie eine mögliche - aber für Kanada nicht ungewöhnliche - Minderheitsregierung dafür nutzen würden, die liberale Politik nach links zu drücken. Damit könnte Trudeau sich den Forderungen ausgesetzt sehen, das vor allem für kleinere Parteien nachteilige Wahlsystem zu ändern oder eine radikalere Klimapolitik zu fahren. Auch auf die erstarkte Regionalpartei Bloc Québécois könnte eine größere Rolle zukommen.

Er sei nicht begeistert von den Wahlergebnissen, sagte ein Kellner in einem Restaurant in Montréal der Deutschen Presse-Agentur. "Ich bin mir nicht sicher, wie lange das alles halten wird. Und wenn sie nichts hinbekommen, dann müssen sie die Regierung auflösen und dann müssen wir bald schon wieder wählen." 

Berlin dürfte sich über den neuen, alten Premier jedenfalls freuen. So arbeitet die Bundesregierung mit Trudeaus Regierung auf vielen Ebenen gut zusammen - nicht nur beim Klima, sondern auch im Freihandel oder bei der Stärkung multilateraler Bündnisse im Zeitalter nationaler Alleingänge. "In unseren europäischen Herzen gibt es einen speziellen Platz für Justin Trudeau", twitterte EU-Ratspräsident Donald Tusk nach der Wahl.

Bei den Kanadiern muss Trudeau in seiner zweiten Amtsperiode viel Vertrauen zurückgewinnen - denn immerhin rund drei Viertel der Wähler haben gegen ihn gestimmt. In seiner Siegesrede gesteht er ein, Frust bei vielen Wählern gespürt zu haben. Aber er gibt sich auch weiter optimistisch: "Heute haben wir entschieden, Kanada weiter nach vorne zu bringen."