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Raketen ohne Kontrolle Nato berät über Welt ohne INF-Vertrag

"Die Nato hat nicht die Absicht, neue bodengestützte Atomraketen in Europa zu stationieren" - mit Sätzen wie diesem versucht Generalsekretär Stoltenberg, Sorgen vor nuklearer Aufrüstung zu zerstreuen. Doch jetzt wird offen über alle Optionen diskutiert.

Von Ansgar Haase, dpa 13.02.2019, 16:12

Brüssel (dpa) - Die Verteidigungsminister der Nato-Staaten haben am Mittwoch erstmals über Konsequenzen aus der Auflösung des INF-Vertrages über das Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen beraten.

Kann ein neues Wettrüsten noch verhindert werden? Was wir wissen und was wir nicht wissen im Überblick:

Die Vorwürfe der USA gegen Russland

Nach US-Geheimdienstinformationen begann Russland bereits Mitte des vergangenen Jahrzehnts mit der Entwicklung von neuen Marschflugkörpern mit einer Reichweite von mehr als 2000 Kilometern. Erste Test der sogenannten 9M729 (Nato-Code: SSC-8) erfolgten demnach wenige Jahre später, ein komplettes Flugerprobungsprogramm war bis 2015 abgeschlossen.

Um zu verschleiern, dass die 9M729 gegen den INF-Vertrag verstoße, soll Russland die Möglichkeit genutzt haben, dass Schiffe und Flugzeuge mit Marschflugkörpersystemen ausgestattet werden dürfen, die mehr als 500 Kilometer weit fliegen können. So soll die 9M729 deswegen nur von festen Abschussvorrichtungen längere Flüge absolviert haben. Von mobilen bodengestützten Anlagen, die unter den INF-Vertrag fallen, wurde die Rakete nach US-Angaben dann nur auf Flügen mit einer Länge von unter 500 Kilometern getestet.

"Indem die zwei Tests zusammengefügt wurden, konnte Russland einen Marschflugkörper entwickeln, der eine vom INF-Vertrag untersagte Reichweite hat und von einer mobilen landgestützten Abschussvorrichtung startet", erklärte US-Geheimdienstdirektor Daniel Coats. Er bekräftigte, dass die 9M729 nicht nur mit konventionellen, sondern auch mit atomaren Sprengköpfen bestückt werden könnten. Die Reichweite wird mit bis zu 2600 Kilometern angegeben - sie liegt damit deutlich über der INF-Begrenzung von 500 Kilometern.

Die aktuelle Bedrohungslage

In der Nato wird davon ausgegangen, dass mittlerweile mindestens drei russische Bataillone sowie ein Ausbildungsverband mit 9M729-Systemen ausgestattet sind. Gefährlich sind die Waffen, weil sie sich nicht so leicht wie Schiffe und Flugzeuge überwachen lassen und weil sie in fast ganz Europa Hauptstädte sowie zivile und militärische Infrastruktur mit geringer oder ohne Vorwarnzeit treffen können.

Wenn Russland solche Waffen besitzt, Nato-Staaten aber nicht, droht ein strategisches Ungleichgewicht zu entstehen, das in Krisensituationen von Moskau ausgenutzt werden könnte. Das ist ein Grund, warum die USA den INF-Vertrag Anfang des Monats mit Rückendeckung der Nato-Partner gekündigt haben - nachdem sie Russland zuvor erfolglos aufgefordert hatten, alle 9M729 umgehend zu vernichten. "Das System stellt eine signifikante Gefahr für unsere Sicherheit dar", sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch.

Wie die USA und die Nato-Partner jetzt reagieren könnten

Die USA haben bereits angekündigt, in Reaktion auf die Aufrüstung Russlands selbst ein mobiles bodengestütztes Mittelstreckensystem zu bauen. Dieses soll nach derzeitiger Planung ausschließlich konventionelle - das heißt nicht-atomare - Sprengköpfe transportieren. Ob es dabei bleibt, ist allerdings völlig unklar. Militärexperten weisen darauf hin, dass sich solche Planungen schnell ändern ließen und dass die Nato frühestens im Sommer gemeinsame Aufrüstungsentscheidungen treffen werde. Bis dahin könnten zum Beispiel seegestützte Raketen für zusätzliche Abschreckung Russlands sorgen. Der Aufbau eines flächendeckenden Abwehrsystems gegen die russischen 9M729 gilt derzeit kaum als machbar.

Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen sprach sich in Brüssel dagegen aus, vorschnell eine Stationierung zusätzlicher US-Atomwaffen in Europa auszuschließen. "Gerade weil wir am Anfang der Diskussion stehen, ist es eben wichtig, dass wir jetzt nicht anfangen zu hierarchisieren oder einzelne Punkte rausnehmen, sondern wirklich die ganze Palette mit auf dem Tisch liegen lassen", sagte sie. Man müsse in der verbleibenden Zeit diskutieren, um dann einen "besonnenen, einen klugen Vorschlag" auf den Tisch legen zu können.

Die russischen Vorwürfe gegen die USA

In Moskau werden die Vorwürfe der USA als haltlos bezeichnet und Gegenvorwürfe erhoben. Letztere beziehen sich vor allem auf das US-Raketenabwehrsystem Aegis Ashore, das zu Teilen in Rumänien stationiert ist. Russland behauptet, dass von den dortigen Abschussanlagen theoretisch nicht nur Abfangraketen, sondern auch offensive, atomar bestückbare Marschflugkörper wie die Tomahawk abgefeuert werden könnten. Weitere Kritikpunkte der Russen beziehen sich auf bewaffnete Drohnen und Tests mit sogenannten Boostern (Hilfsraketen, die zusätzlichen Schub erzeugen) von ballistischen Raketen.

Experten und der Faktor China

Da es keine unabhängigen Fachleute gibt, die die Waffensysteme der Russen und Amerikaner untersuchen können, lässt sich derzeit kaum beurteilen, was an den gegenseitigen Vorwürfen dran ist. Sicher ist, dass auch Länder wie China, der Iran oder Pakistan eine Mitverantwortung für das Ende des INF-Vertrages tragen. Weil sie das Abkommen nie unterzeichnet haben, konnten sie in den vergangenen Jahren ungehindert Mittelstreckenraketen bauen. Dies gilt als Grund dafür, dass sowohl den USA als auch Russland unterstellt wird, mit Blick auf Ostasien kein großes Interesse am Erhalt des INF-Vertrages zu haben. Verteidigungsministerin von der Leyen sprach sich dafür aus, Peking in mögliche neue Rüstungskontrollgespräche einzubeziehen.