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Porträt "Putschist" oder Retter? Brasiliens Präsident Temer

Angetreten, Brasilien aus der tiefsten Rezession zu holen, von seinen Gegnern als "Putschist" beschimpft. Nach gerade einmal einem Jahr droht auch der selbsternannte Retter, Präsident Temer, zu stürzen.

Von Georg Ismar, dpa 19.05.2017, 11:01

Brasilia (dpa) - Michel Temers bisher größter Auftritt war zugleich ein trauriges Spiegelbild dieser umstrittenen Präsidentschaft.

Bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro war Temers Eröffnungsformel nicht zu verstehen: Er wurde an jenem 5. August 2016 im Maracanã-Stadion gnadenlos ausgepfiffen. Ein peinliches Schauspiel vor aller Welt. Zur Schlussfeier blieb er dann doch lieber zu Hause.

Er wollte mit Reformen zum Retter Brasiliens werden, die Rezession überwinden - und es gibt hier erste Zeichen der Besserung. Aber irgendwie passt es zum völligen Vertrauensverlust der politischen Klasse, dass der 76-Jährige nun im Mittelpunkt eines filmreifen Politkrimis steht, der ihn das Amt kosten könnte. Es gibt Aufnahmen von Geldkofferübergaben und belastende Mitschnitte Temers über Schweigegeldabsprachen. Er wettert, dass er illegal abgehört worden ist und erklärt: "Ich werde nicht zurücktreten, ich wiederhole: Ich trete nicht zurück." Doch die Halbwertzeit dieser Sätze? Ungewiss.

Wie er an die Macht kam, gereichte ihm nicht zu Ruhm, seither ertönt bei fast jedem Auftritt der Schlachtruf "Fora Temer", "Temer raus". Er war einst mit der linken Präsidentin Dilma Rousseff angetreten und wurde ihr Vizepräsident. Von Anfang an war es ein ungleiches Paar, aber Temers Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) setzte die Machtbeteiligung über Inhalte. Dann brach er mit Rousseff, verbündete sich mit der Opposition und erreichte die umstrittene Amtsenthebung. Rousseff beschimpfte ihn verbittert als "Putschist" und "Verräter".

Rousseff, selbst nicht frei von Verdacht und eigene Fehler leugnend, meint, sie sei nur gestürzt worden, damit Temer und seine Mitstreiter von der Regierung aus die gnadenlos ermittelnde Justiz im größten Korruptionsskandal des Landes ("Lava Jato" - "Autowäsche") bändigen können - und dank der Immunität nicht belangt werden. Die Politik ist von dem Skandal wie gelähmt - Abwehrkampf statt wichtiger Reformen.

Fast alle führenden Unternehmen Brasiliens sind involviert, sie mussten Politiker bestechen, um an Aufträge zu kommen. Doch Temer, der Strippenzieher, der immer etwas finster dreinschaut, machte nun einen Fehler. Aus seiner Sicht wurde er Opfer einer Verschwörung: Er wusste nicht, dass ein Gespräch mit Unternehmern mitgeschnitten wurde, in dem er grünes Licht gegeben haben soll, um einen früheren Vertrauten, Ex-Parlamentspräsident Eduardo Cunha, mit rund 150 000 Euro zum Schweigen zu bringen. Cunha weiß viel und ist eine Gefahr.

Der Oberste Gerichtshof bekam nun das Material und droht mit einer Veröffentlichung. Der Sohn libanesischer Einwanderer könnte der Präsident mit der kürzesten Amtszeit seit dem Übergang zur Demokratie 1985 werden. Glanz verleiht ihm vor allem seine hübsche Frau Marcela, 34 Jahre und damit 42 Jahre jünger als er. Temer galt vor allem an den Märkten als Hoffnungsträger. Aber nicht bei den Bürgern. Die Zustimmung zu seiner Amtsführung lag zuletzt bei nur neun Prozent.

Seine Maßnahmen wirken mitunter seltsam. Als ein Fleischskandal zum Importstopp in vielen Ländern führte, lud er zahlreiche Botschafter in ein Steakhaus ein, um sie von der Qualität zu überzeugen. Und nach wenigen Tagen zog er wieder aus der renovierten Präsidentenresidenz aus - er hatte das Gefühl, dass es dort nach Rousseffs Auszug spukte. "Die Energie dort war nicht gut", sagte er. "Ich habe dort seltsame Dinge gespürt und konnte nicht schlafen, von der ersten Nacht an."

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