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Opferhilfen ziehen Bilanz Schmerzliche Fehler im Umgang mit Angehörigen

Manchmal war die Rechnung für die Leichenschau das erste, was Angehörige von Terroropfern von den Behörden per Post bekamen - lange vor Kondolenzschreiben. Nach solchen Erfahrungen gibt es viel zu verbessern, urteilen Helfer.

18.12.2017, 13:06

Berlin (dpa) - Als der Attentäter Anis Amri am 19. Dezember 2016 mit einem Lastwagen in den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche raste, war die Stadt auf den Terroranschlag nicht gut vorbereitet. Besonders hart traf das die Familien der Toten und Verletzten.

Eine Bilanz aus Sicht der Opferhilfen:

Woran hat es unmittelbar nach dem Anschlag gefehlt?

"Es hat Vorbereitungen zur Terrorbekämpfung und für Terrorermittlungen gegeben, aber die Opferbetreuung war völlig aus dem Blick", kritisiert Martina Linke, Vize-Chefin des Weissen Rings in Berlin. "Es hat an Strukturen gefehlt. Die Hotline der Polizei war unvorbereitet und überfordert. Sie haben Menschen als tot gemeldet, die lebten. Sie haben einer Tochter das falsche Krankenhaus genannt. In einem anderen ist die Mutter in dieser Zeit gestorben. Deshalb konnte sie keinen Abschied nehmen."

Wozu führte diese Situation?

Angehörige litten zusätzlich. "Der Umgang mit den Betroffenen war demütigend und unsensibel", meint Martina Linke. "Es gab Verletzte, die hatten nach der Vernehmung der Polizei im Krankenhaus einen seelischen Zusammenbruch. Der Polizei ging es offensichtlich darum, auszuschließen, dass Trittbrettfahrer Vorteile aus dem Anschlag ziehen."

Eva Schumann, Geschäftsführerin der Berliner Opferhilfe, sagt: "Auch für Zeugen sowie professionelle und private Helfer ist das, was sie gesehen haben, ein massiver Eingriff in ihr Leben." Das werde unterschätzt. "Auch wenn ihnen äußerlich nichts passiert ist. Das Jahr ist rum, die Weihnachtsmärkte sind wieder aufgebaut, das ist für viele ein ganz starker Trigger. Sie brauchen jetzt wieder Unterstützung."

Ein Terroranschlag wirke nach, die persönlichen Grundfesten von Sicherheit und Vertrauen könnten erschüttert werden, sagt Rechtsmedizinerin Saskia Etzold, Vize-Leiterin der Berliner Gewaltschutzambulanz. "Das kann jeden treffen, jederzeit und überall. Das ist für viele Menschen eine neue Erfahrung. Ich kann mir überlegen, ob ich ein Risiko eingehen und Bungee-Jumpen oder Motorrad fahren will. Aber ich kann mich nicht dagegen entscheiden beziehungsweise davor schützen, Terroropfer zu werden."

Was sollte künftig besser laufen im Umgang mit Opfern und ihren Familien?

"Wir brauchen einen Krisenstab auf Bundesebene. Das muss  professionell laufen. Da muss Personal sitzen, das auf den Umgang mit Menschen in einem Ausnahmestatus trainiert ist", sagt Martina Linke. Es gebe ja bei der Polizei auch geschultes Personal für das Überbringen von Todesnachrichten. "Es geht um die Anerkennung von Leid, auch auf der menschlichen Ebene. Dann überlegt man sich, ob man Angehörigen ohne Vorwarnung eine blutverschmierte Handtasche übergibt."

Auch wenn etwa eine Rechnung für die Leichenschau lange vor Kondolenzschreiben kommt, kann das verstören.

Eva Schumann von der Opferhilfe bestätigt: "Eine zentrale Anlaufstelle wäre wesentlich. Es geht um Vernetzung und Informationsfluss, so dass Menschen nach solch einem Anschlag die Strukturen sofort nutzen können."

"Es ist wichtig, rechtssicher zu dokumentieren, welche materiellen Folgen für Verletzte und ihre Familien entstehen können", ergänzt Saskia Etzold. Dafür seien oft zweite Gutachten nach einer Reha wichtig. "Wer nach einem Terroranschlag nicht mehr arbeiten kann, kann sehr große materielle Schäden haben, vor allem als junger Mensch, der noch sein ganzes Arbeitsleben vor sich hat. Da geht es darum, Versorgungsansprüche zu sichern."