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Startschuss für den Brexit Wer will was in der EU der 27?

Die britische Premierministerin May hat den Startschuss für die Austrittsverhandlungen mit der EU gegeben. Aber die EU ist kein Block. Jedes Land hat eigene Interessen. Einschätzungen der Korrespondenten der Deutschen Presse-Agentur in Europa.

Von den dpa-Korrespondenten 30.03.2017, 12:14

Brüssel (dpa) - "Der Brexit hat uns stärker zusammengeschweißt als früher", sagt EU-Ratspräsident Tusk. Doch in Brüssel geht die Furcht um, dass es mit der gemeinsamen Linie rasch vorbei sein könnte, wenn es bei den jetzt beginnenden Verhandlungen über den EU-Austritt Großbritanniens zur Sache geht.

"Die Briten, die werden es schaffen, ohne große Anstrengung die anderen 27 Mitgliedsstaaten auseinanderzudividieren", orakelte jüngst EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.

Denn jedes Land hat beim Brexit etwas zu verlieren, jedes will eigene Interessen wahren. Deutschland zum Beispiel bangt um seine Exportwirtschaft und um den Absatzmarkt für Autos. Aber was treibt die übrigen Mitgliedstaaten um? Worauf werden sie bei den Brexit-Gesprächen den Daumen halten? Es geht um holländische Tulpen und griechische Reeder, um ungarische Ambitionen und irische Grenzen: eine virtuelle Rundreise durch die Rest-EU.

Ganz hoch im Norden macht sich FINNLAND vor allem Sorgen um seine Forst- und Papierwirtschaft. Denn Großbritannien ist der sechstgrößte Handelspartner, und ein Drittel der finnischen Exporte ins Vereinigte Königreich waren 2015 Papier oder Pappe.

Von den drei Baltenstaaten hat ESTLAND in erster Linie Interesse an einer möglichst engen Sicherheitspartnerschaft mit Großbritannien, das als Nato-Partner Schutztruppen in dem an Russland grenzenden Land führt. LETTLAND und LITAUEN sorgen sich um die Zukunft ihrer Staatsbürger, die nach dem EU-Beitritt des Baltikums 2004 in Großbritannien Arbeit suchten. Schätzungen zufolge sind das je rund 100 000 Litauer und Letten.

Dieses Thema treibt fast alle osteuropäischen EU-Länder um, vor allem aber POLEN. Rund 900 000 Menschen sind von dort nach Großbritannien gezogen und fragen sich, ob sie in ihre Heimat zurück müssen. Aus TSCHECHIEN gingen 35 000 Menschen auf die Insel, aus der SLOWAKEI 75 000, aus UNGARN 300 000. Alle vier Staaten - die sogenannte Visegrad-Gruppe - haben auch eine politische Agenda für die Zeit nach dem Brexit: Sie wollen die EU verändern, so dass die Mitgliedstaaten mehr zu sagen haben und Brüssel weniger.

Nicht nur die SLOWAKEI wittert zudem wirtschaftliche Chancen. Als Niedriglohn- und Niedrigsteuerland könnte man sich für britische Autobauer als günstiger Standort in der Eurozone empfehlen. Und Bratislava hofft, dass EU-Institutionen aus Großbritannien hierher übersiedeln, vor allem die für Medikamente zuständige EU-Agentur EMA. Interesse haben auch andere Länder bekundet.

In ÖSTERREICH rechnet man mit leichten Export-Einbußen, weil Großbritannien unter den wichtigsten zehn Zielmärkten ist, langfristig aber nur mit geringem Schaden. Auch SLOWENIEN und KROATIEN haben keine allzu engen Wirtschaftsbeziehungen zur Insel.

Eine indirekte Folge des Brexits könnte sie jedoch treffen, ebenso wie die Visegrad-Staaten sowie RUMÄNIEN und BULGARIEN: Fehlt Großbritannien als EU-Nettozahler, gibt es bald weniger Geld aus EU-Fonds zu verteilen. Armut könnte Menschen aus dem Südosten der EU zum Umzug in andere Mitgliedsstaaten bringen, wenn Großbritannien als Arbeitsort ausfällt. Auch aus RUMÄNIEN suchten in den vergangenen Jahren 180 000 Menschen ihr Glück im Vereinigten Königreich.

Die Mittelmeeranrainer GRIECHENLAND, ZYPERN, MALTA, SPANIEN und PORTUGAL teilen eine große Sorge: Kommen bald weniger britische Urlauber und was wird dann aus der Tourismusbranche? Für das wirtschaftlich angeschlagene Griechenland sind die sonnenhungrigen Briten vor den Deutschen die größte Urlaubergruppe: 2,5 Millionen kamen 2016. An der portugiesischen Algarve und an spanischen Küsten sieht es ähnlich aus. In Spanien haben sich zudem knapp 300 000 Briten dauerhaft angesiedelt. Spezialproblem für Spanien ist das britische Überseegebiet Gibraltar.

Vor allem GRIECHENLAND und ZYPERN blicken auch auf die Handelsschifffahrt, denn London ist der Sitz vieler großer Reedereien. In beiden Ländern hofft man, Reeder anzulocken, die aus Großbritannien weggehen. ZYPERN und MALTA setzen auf ihren Sonderstatus als Mitglieder des Commonwealth of Nations. Ihre Bürger haben auf den Britischen Inseln mehr Rechte als die anderer EU-Staaten.

ITALIEN ist unruhig wegen möglicher neuer Unsicherheiten für die Wirtschaft, die Finanzmärkte und die wackelnden Banken. Das ist auch politisch heikel vor möglichen Parlamentswahlen in diesem oder im nächsten Jahr, weil sich populistische Parteien wie die Fünf-Sterne-Bewegung durch den Brexit im Aufwind sehen.

FRANKREICH ficht der Brexit scheinbar wenig an: Präsident François Hollande gibt sich hart und drückt aufs Tempo. Der Finanzplatz Paris erhofft sich Vorteile, wenn internationale Banken Aktivitäten aus London abziehen wollen. Dabei konkurriert man mit Frankfurt.

Auch LUXEMBURG könnte profitieren, wenn Finanzdienstleister umzögen, doch Premierminister Xavier Bettel spielt das herunter. Der Brexit könnte im Land auch EU-Arbeitsplätze kosten, beispielsweise beim Europäischen Gerichtshof und in der Verwaltung des Europaparlaments. Das Bangen gilt auch für BELGIEN mit dem EU-Hauptsitz Brüssel. London ist nur zwei Zugstunden entfernt und die Beziehungen sind eng.

Noch näher dran ist IRLAND, das sich mit dem britischen Nordirland eine Insel teilt. Derzeit ist die Grenze nahezu unsichtbar, Iren und Nordiren reisen problemlos hin und her. Eine überwachte EU-Außengrenze könnte die Wirtschaftsbeziehungen erschweren. Und sie gilt als politisch gefährlich, erinnert sie viele Menschen doch an die strikte Trennung während des Nordirland-Konflikts.

Nachteile für den Handel ahnen die NIEDERLANDE, die jährlich Waren für rund 35 Milliarden Euro nach Großbritannien exportieren. "Hier geht es um Zehntausende Arbeitsplätze", sagt Arbeitgeberpräsident Hans de Boer. Schon jetzt spüren die niederländischen Blumenzüchter die Folgen. Der Verkauf von Tulpen in Großbritannien brach ein.

Bei DÄNEMARK und SCHWEDEN sind ebenfalls große Summen im Spiel. "Man kann bei den Einkäufern in unserer Branche spüren, dass sie die Handbremse etwas anziehen", sagt Mogens Jepsen von der dänischen Modefirma Molo Kids. In Schweden hängen rund 66 000 Jobs am UK-Export. Außerdem sind die Skandinavier besorgt, was mit den rund 90 000 Schweden geschieht, die im Vereinigten Königreich wohnen.