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Fragen & Antworten Wie aktiv ist der türkische Geheimdienst in Deutschland?

Wenn ein ausländischer Geheimdienst Informationen über Menschen in Deutschland sammelt, tut er das normalerweise heimlich. Umso erstaunlicher ist, dass der türkische Geheimdienst dem BND eine komplette Liste mit den Namen von Ausgespähten übergeben haben soll.

28.03.2017, 16:44

Berlin (dpa) - Berichte über Spionageaktivitäten des türkischen Geheimdienstes MIT in Deutschland schrecken die Politik auf.

Die Bundesanwaltschaft nahm Ermittlungen wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit auf. Droht eine neue Eskalation im deutsch-türkischen Verhältnis? Einige Fragen und Antworten:

Wie weit reicht der Arm der Türkei in Deutschland?

Das ist schwer zu sagen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hatte zu Monatsbeginn vor einer wachsenden Einflussnahme der Regierung in Ankara auf die in Deutschland lebenden Türken gewarnt. Man beobachte "einen signifikanten Anstieg nachrichtendienstlicher Tätigkeiten der Türkei in Deutschland", teilte die Behörde mit. Unter solchen Aktionen werden auch das Ausspähen von Gegnern des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, versuchte Einflussnahme, Propaganda und Desinformationskampagnen verstanden.

Und was ist nun neu?

Die Verfassungsschutzbehörden gehen dem Verdacht nach, dass der MIT in großem Umfang Anhänger der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen in Deutschland ausspioniert. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur wurde eine Liste mit Namen angeblicher Gülen-Anhänger, die der MIT im Februar dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes (BND) überreicht hatte, an Sicherheitsbehörden in den Bundesländern weitergegeben. Dem Recherchenetzwerk von "Süddeutscher Zeitung", NDR und WDR zufolge enthält die Liste Meldeadressen, Telefonnummern und Fotos von Betroffenen, die heimlich aufgenommen wurden.

Wie reagieren die deutschen Behörden?

Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagt, die Spionageabwehr in Bund und Ländern werte solche Listen intensiv dahingehend aus, wie ein ausländischer Nachrichtendienst diese Informationen erhalten habe. Jedem Verdacht auf illegale Aktivitäten von Mitarbeitern ausländischer Nachrichtendienste werde mit Nachdruck nachgegangen - auch im Hinblick auf einen möglichen Anfangsverdacht für eine geheimdienstliche Agententätigkeit. Geprüft werden demnach auch die vom ausländischen Nachrichtendienst erhobenen Vorwürfe. Zudem wird die Gefährdung der auf der Liste stehenden Personen bewertet. Die Landesbehörden ergreifen nach Angaben des Sprechers gegebenenfalls Maßnahmen etwa zum Schutz der Betroffenen. Die Bundesanwaltschaft nahm Ermittlungen auf.

Und was bedeutet das für die Türken in Deutschland?

Dadurch verstärkt sich das bei einigen schon jetzt vorherrschende Gefühl, der türkische Staat beobachte ihre Aktivitäten in Deutschland. Journalisten, die am Montag über den Beginn des Referendums über die türkische Verfassungsreform berichten wollten, stellten fest, dass nur wenige Wähler offen über ihre politische Meinung sprechen wollten. Einige sagten explizit, sie hätten Angst vor möglichen Repressalien bei einem Besuch in der Türkei. "Das liegt vor allem daran, dass Staatspräsident Erdogan und einige seiner Minister diejenigen, die beim Referendum mit Nein stimmen, als Vaterlandsverräter deklariert haben", sagt der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu.

Betrifft das nur Menschen, die politisch aktiv sind?

Nicht unbedingt. Ufuk Cakir ist Rechtsvorstand des Dachverbandes der Alevitischen Gemeinde Deutschland. Der Rechtsanwalt hatte zuletzt mit mehreren in Deutschland lebenden Aleviten zu tun gehabt, die an türkischen Flughäfen erst in Gewahrsam genommen und dann zurückgeschickt worden waren.

Solidarisieren sich andere Deutsch-Türken mit Gülen-Anhängern?

Eher nicht. Viele Migranten aus der Türkei haben Vorbehalte gegen die Gülen-Bewgung. Nicht nur Erdogan-Anhänger, die - im Gegensatz zur Bundesregierung - fest überzeugt sind, dass Gülens Hizmet-Bewegung hinter dem Putsch steckt. Die säkulare Opposition hat den Gülenisten ihre einstige Unterstützung für Erdogans islamisch-konservative Partei AKP nicht verziehen. "Es wäre falsch, die Gülen-Anhänger jetzt als Opfer und als reine Demokraten darzustellen, schließlich haben auch sie früher Türken in Deutschland bespitzelt", sagt Sofuoglu.

Ist die Gülen-Bewegung gefährlich?

Deutsche Geheimdienste erwecken nicht den Eindruck. BND-Präsident Bruno Kahl nannte die Gülen-Bewegung "eine zivile Vereinigung zur religiösen und säkularen Weiterbildung". Das ist das Bild, das die Bewegung von sich zeichnen möchte - das dem Vergleich mit der Wirklichkeit in der Türkei aber nicht standhält.

War die Gülen-Bewegung am Putschversuch in der Türkei beteiligt? 

Ankara hat keine Beweise dafür vorgelegt, dass der in den USA lebende Gülen selbst Drahtzieher des Putsches war. Sogar die versammelte Opposition ist aber überzeugt, dass seine Bewegung beteiligt war. Der inzwischen inhaftierte investigative Journalist Ahmet Sik - Erdogan-Kritiker und Gülen-Experte - ging nach dem Putschversuch von drei Gruppen im Militär aus, die beteiligt waren. Den Hauptteil bildeten nach seiner Überzeugung Soldaten der Gülen-Gemeinde.

Was will die Gülen-Bewegung?

Sik sagte: "Das Ziel der Gülen-Gemeinde ist, die Bürokratie des Staates zu übernehmen und die Sicherheit zu kontrollieren: Die türkischen Streitkräfte, die Polizei, den nationalen Nachrichtendienst und die Justiz. Diese vier Grundpfeiler bilden das Herz und Hirn des Staates." Westliche Sicherheitsexperten schätzten, dass zeitweise weit mehr als die Hälfte aller Polizisten Verbindungen zur Gülen-Bewegung hatten.

Was bedeuten die MIT-Listen für die Zusammenarbeit mit der Türkei?

Der BND wird seine Kooperation mit dem MIT sicher fortsetzen. Obwohl die deutschen Dienste schon lange der Meinung sind, da könne einiges besser laufen. Man hat gemeinsame Interessen, etwa im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Aus deutscher Sicht ist das Sammeln von Informationen über Türkeistämmige in Deutschland, gegen die aus deutscher Sicht nichts vorliegt, aber keine kleine Sache. Aus dem politischen Raum kommen deshalb Forderungen, nach diesem Vertrauensbruch nicht einfach zur Tagesordnung überzugehen.

Gab es solche Fälle schon früher?

Zwischen 2010 und Mitte 2015 wurden in Deutschland vier Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit für türkische Geheimdienste geführt. Drei Verfahren wurden eingestellt. Ein viertes Verfahren gegen drei Angeklagte wurde vom Oberlandesgericht Koblenz im November 2015 gegen Auflagen eingestellt.

Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linke-Bundestagsfraktion 2015

Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linke-Bundestagsfraktion 2016