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Scholz: Sind gut gerüstet Volkswirte sehen Aufschwung in Gefahr

Mehr als 14.000 Corona-Neuinfektionen binnen eines Tages meldet das Robert Koch-Institut. Wirtschaftsminister Altmaier nennt die Lage "dramatisch" und warnt vor einem neuen flächendeckenden Lockdown. Auch aus Sicht von Ökonomen und der OECD dürfte es ungemütlicher werden.

23.10.2020, 23:01

Berlin/Nürnberg (dpa) - Angesichts rasant steigender Corona-Neuinfektionen in Deutschland wächst unter Volkswirten die Sorge vor den möglichen ökonomischen Folgen einer zweiten Pandemie-Welle.

"Der konjunkturelle Aufschwung dürfte bis zum Frühjahr weitgehend zum Erliegen kommen", sagte die Chefvolkswirtin der staatlichen KfW Bankengruppe, Fritzi Köhler-Geib. "Dadurch dürfte auch die Arbeitslosigkeit in den kommenden Monaten stagnieren oder - wenn es schlecht läuft - deutlich zunehmen."

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier nannte die Infektionslage "dramatisch", warnte jedoch erneut vor einem Herunterfahren der Wirtschaft. "Einen neuen flächendeckenden Lockdown darf es nicht geben, und ich halte ihn auch nicht für erforderlich", sagte der CDU-Politiker den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Finanzminister Olaf Scholz hält Deutschland für finanziell gut gerüstet. "Die Corona-Pandemie ist längst noch nicht besiegt, und wie erwartet verzeichnen wir jetzt im Herbst deutlich steigende Infektionszahlen", sagte der SPD-Politiker der "Augsburger Allgemeinen" (Samstag). "Die Lage ist ernst, und wir nehmen sie ernst."

Aus Sicht der Industrieländervereinigung OECD könnte die für 2021 erhoffte Erholung der Weltwirtschaft schwächer ausfallen als angenommen. "Weil wir mit einem sehr viel weniger klaren wirtschaftlichen Aufwärtstrend ins neue Jahr gehen als erwartet, mit weniger Power", sagte OECD-Generalsekretär Ángel Gurría der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". In diesem Jahr werde der Wirtschaftseinbruch vermutlich noch gravierender als angenommen. Grund dafür seien die in vielen Ländern wieder stark steigenden Corona-Neuinfektionszahlen.

Die Gesundheitsämter in Deutschland haben innerhalb eines Tages nach Angaben des Robert Koch-Instituts vom Samstagmorgen 14.714 neue Corona-Infektionen gemeldet, so viele wie noch nie seit Beginn der Pandemie. Da es allerdings am Donnerstag zu Datenlücken bei der Übermittlung von Zahlen gekommen war, könnten Nachmeldungen zu Buche geschlagen haben. Für Sonntag meldeten die Gesundheitsämter laut dem RKI 11.176 neue Corona-Infektionen. Allerdings sind an Sonntagen die erfassten Fallzahlen meist niedriger, auch weil am Wochenende weniger getestet wird.

Aus Sicht von KfW-Chefvolkswirtin Köhler-Geib bleiben die Beschäftigungsrisiken gerade in kundennahen Wirtschaftsbereichen hoch. Besonders für das Hotel- und Gaststättengewerbe sowie Teile des Einzelhandels und der Kulturwirtschaft würden die Herbst- und Wintermonate noch einmal zur Belastungsprobe. Eine Ansicht, die auch Marc Schattenberg, Volkswirt bei der Deutschen Bank, teilt: "Die Situation ist belastend, besonders für den Dienstleistungssektor."

Für das vierte Quartal gebe es Abwärtsrisiken, die sich auch in das neue Jahr hineinziehen könnten, sagte Schattenberg. Auch bei der Allianz-Gruppe hieß es, die Risiken nach unten überwögen. Leider dürfte es schon ab Herbst wieder ungemütlicher für die deutsche Wirtschaft werden, sagte Allianz-Expertin Katharina Utermöhl. Das Auslaufen stützender Nachholeffekte werde unmissverständlich deutlich machen, dass die derzeitige Konjunkturerholung kein Selbstläufer sei.

Altmaier betonte, "die positiven Konjunkturannahmen, die wir für das Jahr 2021 gemacht haben - also ein substanzielles Wachstum in der Größenordnung von mindestens vier Prozent - stehen natürlich unter dem Vorbehalt, dass es uns gelingt, die hohen Infektionszahlen wieder zu senken". Für 2020 indes könne man davon ausgehen, dass die Entwicklung weitgehend so eintrete, wie sie prognostiziert worden sei. Für das kommende Jahr hatte die Bundesregierung ein Wirtschaftswachstum von 4,4 Prozent vorausgesagt, für das laufende einen Konjunktureinbruch von 5,8 Prozent.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, befürchtet, dass die Risiken einer zweiten Welle unterschätzt werden. Es müsse dringend gelingen, den Bürgern den Ernst der Lage bewusst zu machen und sie zu deutlich mehr Vorsicht zu bringen. "Ein starker und anhaltender Anstieg der Infektionen könnte die Wirtschaft genauso hart treffen wie die erste Welle", sagte Fratzscher der "Augsburger Allgemeinen": "Die Wirtschaft ist heute viel weniger widerstandsfähig als noch im März und April."

Nach Meinung von FDP-Bundestagsfraktionsvize Christian Dürr zeigt sich, wie wirkungslos das Konjunkturpaket der Koalition gewesen sei. Die Mehrwertsteuersenkung sei teuer und verpuffe ohne erkennbaren Erfolg: "Wir brauchen jetzt schleunigst ein Signal für dauerhafte Entlastungen, damit Unternehmen mit so viel Zuversicht wie möglich wirtschaften und investieren können."

Trotz der Pandemie müsse die Welt den Kampf gegen den Klimawandel viel konsequenter als bisher angehen, mahnte der OECD-Chef. Dafür sei eine umfassende Bepreisung von CO2-Emissionen notwendig. "Wir brauchen eine dicke fette CO2-Steuer", sagte Gurría vor der an diesem Montag in Paris beginnenden OECD-Ministerratssitzung.

Zugleich warnte der OECD-Chef vor einer neuen Flüchtlingskrise in Europa durch die Corona-Pandemie. "Meine Sorge ist, dass der Migrationsdruck dieses Mal noch viel größer wird." Gurría forderte die reichen Staaten auf, ärmere Länder beim Kampf gegen die Pandemie und deren wirtschaftliche Folgen stärker zu unterstützen: "Nicht aus Barmherzigkeit, sondern im eigenen Interesse." Gurría warb für mehr Schuldenerlasse und kritisierte, dass es bisher nicht ausreichend Geld gebe, um einen für 2021 erhofften Corona-Impfstoff auch armen L

© dpa-infocom, dpa:201024-99-62133/5

Konjunkturprognose Bundesregierung