1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Politik
  6. >
  7. Kungeln am Bundestag vorbei

Demokratie Kungeln am Bundestag vorbei

Koalitionsspitzen und Ministerpräsidentenrunden entscheiden zunehmend über Politik, für die eigentlich Bundestag und Bundesrat sind.

15.06.2016, 23:01

Berlin (dpa) l Der Polit-Basar ist wieder eröffnet. Wenn am heutigen Donnerstag erst die Ministerpräsidenten unter sich beraten, dann im Kanzleramt 16 Regierungschefs gegen den Bund antreten, liegen Dauerstreitfragen und neue Rangeleien zusammen auf dem Tisch: Von Flüchtlingskosten und Bund-Länder-Finanzen über Erbschaftsteuer bis Uni-Spitzenforschung und Energiewende. Die Themen haben zwar kaum unmittelbar miteinander zu tun. Es geht aber einmal mehr um viel Geld, das inzwischen einzige Kompromissmittel zwischen CDU, CSU, SPD und Grünen.

Der seit Jahren übliche Kuhhandel verlagert sich dabei seit geraumer Zeit stärker in die Runde der Regierungschefs und der drei Parteivorsitzenden Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Sigmar Gabriel (SPD). Die Ministerpräsidentenkonferenz wird aufgewertet, letztlich auch als Folge der Flüchtlingskrise. Ein Sondertreffen jagt das nächste. Bundestag und Bundesrat droht ein Machtverlust, auch weil es in der Länderkammer nach den jüngsten Landtagswahlen noch schwieriger wird, Mehrheiten zu schmieden.

Das schwarz-rote Küchenkabinett von Merkel, Seehofer und Gabriel wirkt längst wie eine Schattenregierung und ein Schattenparlament in einem. Die Fraktionsspitzen von Union und SPD sind eher Statisten, die manchmal mit am Tisch sitzen dürfen. Entscheidungen der drei Parteichefs werden auch gegen den Willen der Regierungsfraktionen durchgeboxt, wie zuletzt die Elektroauto-Kaufprämien, die Unions-Abgeordnete partout nicht haben wollten.

Hinzu kommt die eigenartige Doppelrolle Bayerns: Die CSU kann bajuwarische Interessen in der Bundesregierung durchsetzen und gleichzeitig die Länderfront als Streitführerin gegen den Bund mobilisieren. München sitzt auf beiden Seiten und kann – je nach Partei- und Landesinteresse – den Hebel ansetzen. Diese Rolle wird die CSU – bei allen Drohgebärden gegen Merkels Flüchtlingspolitik bis hin zur Aufkündigung des Unionsbündnisses – nie aufgeben.

Dazwischenfunken können wenigstens die Grünen. Zumindest im Bundesrat sitzen sie mit Beteiligungen an zehn Landesregierungen am Tisch, spielen wie bei der umstrittenen Anerkennung der nordafrikanischen Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern (um Migranten ohne Asylchancen schneller zurückzuschicken) Zünglein an der Waage.

Angesichts der Gemengelage stellt sich durchaus die Frage, ob das politische System noch so funktioniert, wie es nach der Verfassung sollte. Die Koalitionsverträge sind nicht nur weit umfangreicher geworden, sie scheinen längst zu einem in Stein gemeißelten Drehbuch für vier Regierungsjahre geworden zu sein. Ein Koalitionsausschuss ist keine Erfindung der jüngeren Zeit. Generell soll und kann er die Zusammenarbeit zwischen Koalitionspartnern in Regierung, Bundestag und wenn möglich auch im Bundesrat koordinieren. Sein Machtzuwachs aber ist enorm. Längst agieren die drei Parteichefs als inoffizielles Entscheidungsgremium.

Aus Sicht von Kritikern ist diese Machtkonzentration auch entstanden, weil das Kanzleramt immer seltener koordiniere und bei Regierungs- sowie Bund-Länder-Streitereien selten Lösungen parat habe. Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) als Koordinator auch vor Ressortabstimmungen und Kabinettsentscheidungen sei unsichtbar, heißt es hinter vorgehaltener Hand selbst im eigenen Lager. Das andere Problem ist der Bundesrat, dem eine Junior-Rolle droht: Der muss etwa 40 Prozent der Gesetze zustimmen. Aber es ist schwierig, etwa den einst mächtigen Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat anzurufen.

Auf dem Papier kommt es zwar stärker auf die Länder an als bisher. Ihr politisches Gewicht hat rein rechnerisch durchaus zugenommen. Die Mehrheitsbeschaffung ist alles andere als einfach – was schon die 16 Regierungsbündnisse zeigen: Rot-Rot-Grün, Rot-Rot, Rot-Grün, die „Dänische Ampel“ aus SPD, Grünen und Südschleswigschem Wählerverband, die „Ampel“ aus SPD, FDP und Grünen, Rot-Schwarz sowie Schwarz-Rot, die „Kenia-Koalition“ aus CDU, SPD und Grünen, Schwarz-Grün sowie Grün-Schwarz.

In der Länderkammer müssen sich „L-Länder“, „A-Länder“, „B-Länder“ und „G-Länder“ zusammenraufen. Gemeint ist das linksgeführte „L-Land“ Thüringen. In den „A-Ländern“ stellt die SPD den Regierungschef, in „B-Ländern“ CDU oder CSU. Mit Grün-Schwarz in Stuttgart mischt auch ein „G-Land“ mit. Die Bundesratsmehrheit liegt bei 35 Stimmen, die Zwei-Drittel-Mehrheit bei 46 Stimmen.

Auch für den Vermittlungsausschuss sind 35 Stimmen nötig. Union und SPD kommen im Bundesrat aber nur auf 20 Stimmen. Die schwarz-rote Bundesregierung müsste also mindestens drei Länder mit ins Boot holen, die bei Gesetzen mitziehen.

Grün-Schwarz (Baden-Württemberg) beziehungsweise Schwarz-Grün (Hessen) würden als Mehrheitsbeschaffer nicht reichen.