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Urban Gardening Neues Gefühl in der essbaren Stadt

In Sachsen-Anhalt kehren Gärten in die Zentren zurück. Doch Urban Gardening ist nicht nur Pflanzenbau.

12.08.2016, 23:01

Magdeburg l Die Erde fällt in bröckeligen Stückchen auf den Boden. Sebastian Essig will zeigen, dass die Fläche mitten im Wohngebiet eigentlich nicht dafür geeignet ist, ein blühendes Gartenreich anzulegen. Wenn der 28 Jahre alte Student die Erde umgräbt, findet er noch heute Reste, die auf die Vergangenheit des Grundstücks hindeuten. Bis 2009 stand auf dem Gelände ein Plattenbau. Nach dem Abriss lag die Fläche brach. Sebastian Essig begriff den Zustand als Chance. Heute wachsen im Interkulturellen Garten im Magdeburger Stadtteil Neue Neustadt Himbeeren neben Tomatenpflanzen, Kartoffeln, Apfelbäumen, Zwiebeln und Radieschen. Zwischen Wohnhäusern ist eine Oase entstanden. Etwa 30 Hobby-Gärtner bewirtschaften die Fläche.

Sebastian Essig und die Initiatoren vom Kulturverein Kante wollten 2011 nicht nur den Stadtteil aufhübschen. „Es geht uns vor allem darum, Leute zusammenzubringen. Bei der Pflege der Pflanzen tauschen sich Menschen aus verschiedenen Kulturen und Milieus aus. Das stärkt den Zusammenhalt“, erklärt Sebastian Essig.

Im Interkulturellen Garten in der Neuen Neustadt hat auch eine syrische Familie ein eigenes Beet angelegt. Die Gärten im Stadtgebiet können einen wichtigen Beitrag zur Integration von Flüchtlingen leisten. Vor allem solange Asylbewerber noch nicht arbeiten dürfen, kann der Pflanzenbau eine sinnvolle Beschäftigung sein, sagt Essig.

Auch in anderen Städten funktioniert das Konzept Urban Gardening seit vielen Jahren. In Dessau-Roßlau kann jeder, der möchte, eine Fläche von 400 Quadratmetern als Pate übernehmen. Kostenlos. Für zehn Jahre. Die Paten dürfen ihre Kleingärten weitgehend frei gestalten. Eine Garteninitiative baut Kartoffeln an, eine Rentnergruppe hat ihre Vorstellung des „Romantischen Gartens“ verwirklicht, eine Apothekerin pflegt ihre Heilkräuterbeete. Das Projekt vereint Menschen und Natur.

In Halle entstanden Gärten im Stadtzentrum, aber auch in Großwohnsiedlungen wie der Silberhöhe. „Urban Gardening bringt mehr Vielfalt in das Stadtbild“, sagt Uwe Stäglin, Beigeordneter für Stadtentwicklung und Umwelt. Verwaltung und Wohnungsbauunternehmen unterstützen die Hobby-Gärtner und stellen Flächen bereit. Denn die Gemeinschaftsgärten können Stadtteile ganz neu beleben. „Die Bewohner kümmern sich aktiv um ihr Umfeld und bauen so eine stärkere Bindung zu ihrem Wohnort und der Nachbarschaft auf“, erklärt Stäglin.

In Magdeburg hat Sebastian Essig neben der Straße zwei neue Hochbeete angelegt. Pflücken ist erlaubt. „Die Idee ist, die Stadt als Anbaufläche zu benutzen“, sagt Essig. Deutschlandweit machen 40 Kommunen beim Konzept „Essbare Stadt“ mit.

Dahinter steckt auch der Wunsch nach Unabhängigkeit. Viele Städte wollen nicht mehr nur Umschlagplatz für Waren sein, sondern auch ein Ort der Herkunft. „Die Stadt ist abhängig von der Warenlogistik. Wenn das System mal nicht mehr funktioniert, brauchen wir Lösungen, damit die Stadt überleben kann“, erklärt Sebastian Essig, der neben dem Gärtnern Kulturwissenschaften an der Universität studiert.

Die urbanen Gartenreiche sind auf Spenden angewiesen. Der Magdeburger Stadtteilgarten hat ein jährliches Budget von rund 600 Euro. Ein Sponsor und etwas Geld der Hobby-Gärtner finanzieren den Anbau auf der Fläche, die einem Wohnungsbauunternehmen gehört. In der Landeshauptstadt wird auch an anderen Orten gepflanzt, etwa im „Werk 4“ im Stadtteil Buckau.

Doch den Garten-Projekten könnte ausgerechnet ihr eigener Erfolg gefährlich werden, befürchtet eine Wissenschaftlerin vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) in Bonn. „Ein hübsch gemachtes Quartier lockt Investoren an, die dann auf diesen Flächen bauen wollen“, sagt Juliane Wagner. Die Städte müssten ganz genau hinschauen. „Man kann gar nicht in Geld ausdrücken, was so ein Garten leistet.“