Nicanor Parra entflieht Ehrungen zum 100. Geburtstag
Santiago de Chile - Es gibt zu seinen Ehren Ausstellungen und sogar ein Konzert im Präsidentenpalast, doch davon will Chiles bedeutendster lebender Dichter nichts wissen. Nicanor Parra, der am Freitag 100 Jahre alt wurde, wollte seinen runden Geburtstag lieber abseits von Hommagen und Medienrummel begehen.
Der als "Antipoet" bekannte Literat lebt gesund, aktiv und von Büchern umgeben im Strandort Las Cruces, nicht weit entfernt von der langjährigen Residenz seines literarischen Gegenpols, Pablo Neruda. Kulturministerin Claudia Barattini rief die Chilenen dennoch auf, gemeinsam aus seinen Werken zu lesen.
Parra wurde am 5. September 1914 in San Fabián de Alico geboren, einer kleinen Anden-Ortschaft 400 Kilometer südlich von Santiago de Chile. Er war der älteste von fünf Geschwistern, darunter auch die Musikerin Violeta Parra. Das bescheidene, aber der Literatur und Musik zugeneigte Elternhaus, förderte die künstlerische Begabung der Kinder.
Nicanor studierte mit Stipendien Mathematik und Physik an der Brown University in den USA sowie in Oxford. In den USA nahm er Kontakt zur aufkommenden Beat Generation um den Dichter Allen Ginsberg auf, der die Übersetzung von Parras Werken veranlasste.
"Poemas y antipoemas" (Gedichte und Gegengedichte) hatte 1954 eine Revolution der spanischsprachigen Dichtung eingeleitet, entfernt von den Metaphern und der Sehnsucht nach Perfektion der traditionellen Poesie. "Die Poesie war ein Paradies des feierlichen Dümmlings, bis ich mit meiner Achterbahn kam", sagte Nicanor Parra nach der Veröffentlichung der Gedichtsammlung, über die es auch zum Bruch mit Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda kam.
Der umgangssprachliche Wortschatz und Satzbau sowie die Ironie und die Antihelden in seinen Werken ließen Parra als "Antipoet" berühmt werden. Die Sprachtheorien Ludwig Wittgensteins standen hinter seinen literarischen Experimenten. "Artefactos" (1972) war für die Experten einer der Höhepunkte der Dichtkunst Parras. Die Diktatur Augusto Pinochets (1973-1990) sah darin dagegen ein Teufelswerk. Die Militärs ließen die Bücher einstampfen. In seinen "Ecopoemas" (Ökologischen Gedichten) aus dem Jahre 1982 gab Parra seinem Umweltbewusstsein dichterischen Ausdruck.
Parra wurde mehrmals für den Literaturnobelpreis nominiert. Er habe den Preis verpasst, weil er politisch unkorrekt sei und eine ungut ausgegangene Beziehung zu einer schwedischen Jurorin gehabt habe, sagte Parras Enkel Cristóbal Ugarte kürzlich dem Nachrichtensender CNN Chile. 2011 wurde der Dichter aber mit dem Cervantes-Preis ausgezeichnet, der höchsten Auszeichnung der spanischsprachigen Literatur.