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Der letzte Ausweg: Stefan Zweigs Abschied im Paradies

27.10.2014, 10:07

Rio de Janeiro - Den Weg zu Stefan Zweigs Grab findet Luiz Carlos Fonseca im Schlaf. Er hat schon viele Besucher zur "Quadra 11" auf dem Friedhof der Stadt Petrópolis geführt, der einstigen Sommerresidenzstadt des brasilianischen Kaiserhauses.

"Viele Franzosen, viele Deutsche, weniger Österreicher", sagt Luiz (73), der seit 52 Jahren auf dem Friedhof arbeitet. "Viele legen einen Stein aufs Grab." Die letzte Ruhestätte des österreichisch-jüdischen Schriftstellers und seiner Frau Elisabeth Charlotte (Lotte) ist schwarz, schlicht und schmucklos.

"Stefan Zweig hat sich umgebracht, aber er weigert sich zu gehen. Er lebt", sagt der Brasilianer Alberto Dines mit Blick auf das bleibende Interesse an dessen Werk. Er sah den stets elegant gekleideten Zweig einmal, 1940, in der "Scholem Aleichem", einer israelitisch-brasilianischen Schule in Rio, rund zwei Autostunden von Petrópolis entfernt. Damals war Dines acht Jahre. Das Treffen hat ihn geprägt, denn der heute 82-jährige befasst sich seit Jahrzehnten mit Zweig und der Tragödie, die im Selbstmord endete. Sein Buch "Morte no Paraíso - A Tragédia de Stefan Zweig" (Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig) ist in Brasilien bereits in 4. Auflage erschienen.

Am 1. Dezember stellt er mit der langjährigen Zweig-Übersetzerin Kristina Michahelles und dem Historiker Israel Beloch ein bislang unveröffentlichtes Exil-Adressbuch Zweigs vor, das Aufschluss darüber gibt, wer ihm zum Schluss wichtig war, zu wem er Kontakt hatte. Über 150 Namen, Adressen, Telefonnummern stehen in dem "Telephone Book", einem Büchlein in ledernem Einband, dessen Einträge um Kommentare und Kurzbiografien ergänzt werden.

"Viele Namen von berühmten Persönlichkeiten, die im Stefan-Zweig- Kosmos eine zentrale Rolle gespielt haben, wird man vergeblich suchen", schreibt Klemens Renoldner, Direktor des Stefan Zweig Centre an der Universität Salzburg, in seinem bereits vorliegenden Vorwort. Natürlich fehlen in Zweigs letztem Adressbuch die Namen derer, die bereits gestorben waren - Walther Rathenau, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Arthur Schnitzler, Maxim Gorki oder Sigmund Freud, um nur einige ganz wenige zu nennen.

Es fehlen 1941 aber auch Namen von damals noch Lebenden, mit denen Zweig lange befreundet war, und die Frage steht im Raum: Warum? Nicht nur für die Zweig-Forschung eine interessante Frage. Das "Telephone Book" wird im Dezember auch Thema einer Ausstellung im "Casa Zweig" sein, dem "kleinen Bungalow", wie die Zweigs ihr Haus in Petrópolis nannten.

Das Haus in der Rua Gonçalves Dias 34 ist mit Hilfe einer Handvoll treuer "Zweigianer" zu einem Museum geworden, das seit 2012 an den Weltautor erinnert und inzwischen auch andere Exilanten-Schicksale in Brasilien erzählt. Der damals 60 Jahre alt gewordene Zweig und seine zweite Frau suchten 1941/1942 in dem Haus die Ruhe, die sie aber letztlich nicht fanden.

Dines hat auch die letzten Tage und Stunden des Autors ("Sternstunden der Menschheit", "Schachnovelle", "Joseph Fouché") minutiös recherchiert und nachgezeichnet. Eine Woche vor seinem Tod (am 23. Februar 1942) war er in Rio. Rosenmontag. Er und Lotte trafen Freunde, sahen Karnevalsumzüge im Zentrum. Doch Zweig war alles andere als in Karnevalsstimmung. Schon am Dienstag kehrten er und Lotte zurück nach Petrópolis.

Am Aschermittwoch verwandelte eine Nachricht die lange vorhandene Disposition zum Suizid nach Überzeugung von Dines zum festen Entschluss. An dem Tag kannten Brasiliens Zeitungen nur eine Schlagzeile: "(Brasilianisches) Schiff "Buarque" von deutschem U-Boot versenkt". Für Zweig musste klar sein: Damit tritt Brasilien in den Krieg ein, wie es Monate später auch kam.

"Er war vor dem Krieg geflüchtet, und der Krieg kam dorthin, wo er es nie erwartet hatte", ahnt Dines den Horror, den der überzeugte Pazifist Zweig gefühlt haben muss. Schon am Freitag, zum zweiten Mal in einer Woche fuhr er erneut nach Rio. "Etwas, das er nie, nie zuvor getan hatte. Zweig hasste die Fahrt in schlechten Bussen von Petrópolis nach Rio", verweist Dines in einem dpa-Gespräch auf entsprechende Briefe. In Rio regelte er notarielle Dinge, ging mit Freunden essen, dann fuhr er zurück nach Petrópolis.

Am Samstag luden er und Lotte ein eng befreundetes Paar zum Tee ein. In der Nacht von Sonntag auf Montag (23. Februar 1942) setzten Zweig und Lotte ihrem Leben ein Ende. Dines ist sicher, dass er Morphium nahm, das er nachweislich 1940 schon nach der Einnahme von Paris durch die deutsche Wehrmacht kaufte. Auch Lotte vergiftete sich. Beide wurden im Bett gefunden. Stefan Zweig mit Krawatte. Für Dines einen "wahre Tragödie" im klassischen Sinne. "Es gab keinen Ausweg."

Stefan Zweig, dessen literarische Liebeserklärung "Brasilien - ein Land der Zukunft" im Land selbst schlecht aufgenommen wurde und zu verletzenden Missverständnissen führte, dankte seinem Gastgeberland in seinem Abschiedsbrief "innig". Und er grüßte zum Schluss all seine Freunde. "Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus."