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Lyrik zwischen Vergessen und Wiedererstarken

13.03.2015, 14:53

Leipzig - Wann hat er das letzte Mal ein Gedicht gelesen? Dem Buchmesse-Besucher Uwe Thielemann entfährt ein "Oh Gott!". "Das ist schon sehr lange her. Ich bin mehr so der Sachbuch-Fan", schiebt er hinterher.

So wie Thielemann antworten am Freitag viele Besucher der Leipziger Buchmesse. Sie halten sich für literarisch interessiert - aber Gedichte? Lyrik, so sieht es aus, ist im Land der Dichter und Denker eine vergessene Gattung.

Jan Wagner, am Vortag als erster Lyriker überhaupt für seinen Gedichtband "Regentonnenvariationen" mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt, widerspricht. "Wir haben seit 15 Jahren eine sehr lebendige Lyrikszene in Deutschland. Naturgedichte, politische Gedichte - das kommt alles vor und es ist so lebendig wie seit Jahrzehnten nicht mehr." Auch international sorgen Lyriker für Aufsehen. Der Schwede Tomas Tranströmer zum Beispiel wurde erst 2011 mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet.

Wagners Gedichte erscheinen im Hanser-Verlag, der Lyrikern stärker eine Chance gibt als andere große Häuser. "Ich finde, dass die literarische Landschaft nicht richtig abgebildet wird ohne Lyrik", sagt Lektorin Julia Graf. Von zehn Titeln, die Hanser Berlin pro Halbjahr herausbringe, seien fünf Belletristik und davon einer Lyrik, ordnet Graf die Größenordnung ein. Neben Wagner hat Hanser Björn Kuhligk, Tom Schulz und Sylvia Geist unter Vertrag.

Auch Lektorin Graf sagt, dass die Lyrikszene überaus vital sei. Es gebe viele Lesungen, viele Festivals. "Und das Publikum ist auch da." Allerdings sei es doch ein "enges Spezialpublikum". Doch schon die Nominierung Wagners für den Buchmesse-Preis habe zu spürbar steigenden Buchverkäufen geführt. Das gehe in die Tausende. Vielleicht, sagt Graf, sei jetzt die Zeit für Gedichte da.

Ein Blick auf den gesamten rund 9,5 Milliarden Euro schweren Buchmarkt in Deutschland zeigt allerdings, welche Nische die Lyriker besetzen. Nach Angaben des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels lag 2014 der Umsatzanteil der Lyrik und Dramatik innerhalb der Belletristik bei gerade einmal 1,0 Prozent.

Dichter Wagner glaubt: "Jeder hat ein Grundbedürfnis an Poesie." Und er hält ein Gedicht für das ideale Medium. "Es reichen zehn Zeilen, in denen alles zusammenkommt: Sprache, Metapher, Paradoxien, Figuren, Geschichten." Voraussetzung sei jedoch, dass sich der Leser auf ein Gedicht einlasse.

Dass es einen Markt für das gereimte Wort gibt, beweisen seit einigen Jahren sehr erfolgreich die Poetry Slammer. Deren Shows sind voll. Auch auf der Buchmesse drängen sich die Zuhörer dicht an dicht, wenn Lars Ruppel, amtierender deutschsprachiger Poetry-Slam-Meister, seine gereimten Geschichten über Schmidts Katze oder Heidewitzka vorträgt.

"Poesie ist für jeden da. Das ist der Sinn von Poetry Slam", sagt Ruppel. Aber was genau macht er da - ist das Lyrik? "Ich reime", sagt der 29-Jährige. Er hat ein gewisses Misstrauen der "Hochkultur" gegen die Poetry-Slam-Szene ausgemacht. "Dabei gibt es kaum einen Autoren, der so gut leben kann, wie wir Poetry Slammer. Die Lyriker lesen vor 20 Leuten. Wir treten vor 400 auf."

Doch auch die klassischen Gedichte finden nach wie vor ihre Leserschaft. Zwei Wochen sei es her, dass sie ein mittelalterliches deutsches Gedicht gelesen habe, sagt die junge Schwedin Erika Jönsson. "Ich mag an Gedichten, dass man nachdenken muss, dass es eine Tiefe hat, dass es um das Leben geht", sagt sie. "Ach ja: Und dass es kurz ist, das mag ich auch."